Durch die Wildnis von Feuerland

Kapitel 5
An Bord der Cisne IV

Um halb fünf Uhr nämlich, und ich verstaute alle Sachen in Rekordzeit in meinem Rucksack und kletterte abermals über die Klippen, und als ich in der Fischerbucht ankam lagen natürlich noch alle in den Kojen und schnarchten. Ich klopfte und pfiff, und Manuel, der auch am Vortag noch der gesprächigste gewesen war, wurde als erster wach und liess mich in die Kabine. Dann wurde Maté getrunken und Brot mit Marmelade gegessen, dann Kaffee getrunken und Zähne geputzt, endlich noch die Arbeitskleidung angezogen, und bis wir ausliefen, war es acht Uhr morgens geworden. Das mit den sechs Uhr in der Früh hatte wohl mehr etwas mit Fischerstolz zu tun gehabt. Der Himmel war verhangen und die See ging ziemlich hoch, der Wind pfiff mit etwa fünfzig Knoten, wie ich später erfuhr, das sind rund hundert Stundenkilometer. Doch Manuel und Hektor, sein etwas jüngerer Kollege, gingen auf Deck herum, als hätten sie Haftsohlen an den Schuhen. Nicht so ich: in meiner Regenkleidung stand ich nahe der Kabine und hielt mich an der Reling fest; tat ich das nicht, fing ich sofort an, auf dem glitschigen Deck herumzustolpern. Es ging nun zunächst darum, die etwa fünfhundert Meter langen Netze, die sie an der Küste des Fjords ausgelegt hatten, ins Boot zu holen und die Centollas, zu deutsch Meeresspinne, ans Tageslicht zu bringen. Diese Centollas waren eine äusserst wohlschmeckende Sache und vor allem für den Export nach Japan bestimmt. Nachdem die Boje des Netzes in der aufgewühlten See gesichtet war, wurde sie mit einem Metallhaken an Bord gezogen. Nun stellte sich einer an den Bug des Bootes und begann, das grobmaschige Netz mit blosser Muskelkraft heraufzuziehen, wobei der andere hinter ihm stand und es auf dem Deck auftürmte und die Centollas daraus losmachte, die mit ihren rotweissen Zangen um sich schnappten. Doch die Netze waren weitestgehend leer, und nur Seetang und hin und wieder ein Rochen oder kleiner Hai hatte sich darin verfangen – nach zwei Monaten war der Meeresboden weitesgehend leergefischt. Ich stand…
Kaum zurück im ruhigen Wasser der Bucht, als ich mich auch schon wieder besser fühlte und sich mein Magen mit einem ordentlichen Appetit zurückmeldete. Der Rest des Tages wurde mit Faulenzen und kleinen Arbeiten verbracht. Ich lernte ein paar neue Seemannsknoten, die ich mir genau in mein Notizbuch notierte. Einer davon brachte mich schier zur Verzweiflung, bis ich merkte, dass es der ganz normale Schnürsenkelknoten war, auf eine neue Art angewendet. Einem halben Dutzend der gefangenen Centollas wurden die Beine ausgerissen und gekocht, und dann sassen wir alle auf Deck und pulten das Fleisch aus dem Panzer der Tiere. Das Ganze kam in eine Art Gratinform, zur späteren Zubereitung des Abendessens. Ich zeigte den dreien auch die Bilder meiner bisherigen Reise, und als Manuel das Foto von meinem Geburtstagsessen sah, war er verblüfft – den Brocken Fleisch hatte es ja tatsächlich gegeben! Im Zusammenhang mit dem Umstand, dass Manuel ein Tehuelche-Mestize war, erinnerte mich das erneut an die von C. Musters beschriebenen Charakteristiken dieser ehemals legendären Jäger: die Tehuelche hatten nämlich die Angewohnheit, in kleineren Dingen schlichtweg die Unwahrheit zu sagen. Bei grossen Dingen von Bedeutung, wenn es zum Beispiel um den Fortbestand ihrer Sippe oder die Verhandlung von irgendwelchen Jagdrechten ging, hielten sie sich jedoch strikt an die Wahrheit. Auch Musters hatte mit dieser Neigung zum Flunkern Bekanntschaft gemacht, bis die Tehuelche merkten, dass er für seinen Teil sich immer an die Wahrheit hielt, und von da an hörten sie zumindest ihm gegenüber auf mit den falschen Geschichten. Auch Manuel war ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass ich bei meinen Erzählungen das eine oder andere hinzuerfunden hatte. Dass er nun quasi den digitalen Beweis meiner Aussagen vor sich sah, schien seine Einstellung mir gegenüber im Positiven zu verändern. Dann endlich ging es zu Tisch: Manuel hatte eine Centollaplatte hergerichtet, die unter anderem aus dem Fleisch der Tiere, Mayonnaise, Zwiebeln und Kräutern bestand, dazu gab es frisch frittierte Tortas. Eine Gabel voll von dieser Platte und ein herzhafter Biss in eines…
Puerto Arturo war eine kleine Estancia, vermutlich eine der abgelegensten von ganz Feuerland, und die Leute dort sahen wohl nicht viele Ausländer die Strasse entlangkommen – zumindest nicht aus der Richtung, aus der ich jetzt kam. Ich traf pünktlich zum Mittagessen ein, wurde eingeladen mitzuessen und dabei ausgiebig bestaunt; vor allem die Frau des alten Estancieros konnte es schier nicht glauben, dass hier ein Fremdling zu Fuss unterwegs war. Doch leider, sei es nun die Einfalt dieser Leutchen vom Lande, seien es meine immer noch vorhandenen Schwierigkeiten, das schnell gesprochene patagonisch eingefärbte Spanisch der Landarbeiter zu verstehen, bekam ich keine richtige Auskunft über meinen weiteren Weg nach Puerto Yartou. Und so nahm ich ganz selbstverständlich an, dass ich jener gut befestigten Strasse, die an der Estancia vorbei und in den nahen Wald führte, weiter folgen musste. Nach einer halben Stunde Marsch kam ich im Wald an eine Kreuzung, und folgte auf gut Glück dem nach rechts entlang einer Lagune führenden Weg. Doch dieser führte immer nur nach Osten, weiter in den Wald hinein, und nach einer Viertelstunde kehrte ich um und ging zurück zur Kreuzung und nahm die linke Abzweigung. Dieser Weg schien dem Küstenverlauf zu folgen. Doch nach fast zwei Stunden Marsch hörte die Strasse mittem im Wald auf. Da war ein Fluss, den ich durchwatete, doch auch am anderen Ufer keine Spur mehr irgendeines Pfades oder Weges, dem ich nach Puerto Yartou hätte folgen können. Was nun? Sich stundenlang mit der Machete durch den Wald an die Küste schlagen und dann am Strand entlang wandern? In Gedanken war ich natürlich schon in Porvenir und bei meinem Beefsteak mit Pommes gewesen, einem schönen weichen Hotelbett und einer Flasche Bier. Ich bekam eine Mordswut und entschloss, nach Puerto Arturo zurückzumarschieren – nur dort konnte man mir den richtigen Weg weisen. In einer Dreiviertelstunde rannte ich fast zurück zu jener Kreuzung und war kurz darauf wieder bei der Estancia, die ich zur Mittagszeit verlassen hatte. Und dort erfuhr ich es: jene…
Später, je weiter ich nach Norden kam, wurde der Weg besser und die Reifenspuren deutlicher, und als ich in Puerto Yartou ankam, war aus dem kaum erkennbaren Pfad wirklich eine gut begehbare Küstenstrasse geworden. Puerto Yartou war in den vergangenen Jahrzehnten ein wichtiger Holzumschlagplatz gewesen, die kahlgeschlagenen Hügel der Umgebung zeugten noch von jenen Zeiten. Heute sind die meisten Hütten verfallen, alte Lastwagen und noch viel ältere Dampfmaschinen stehen im wuchernden Gras und warten darauf, vom Rost endgültig zernagt zu werden. Nur eine Hütte war noch bewohnt von zwei Viehzüchtern, und etwas weiter unten am Strand waren eine Anzahl kleiner Fischerhütten zu erkennen. Es war gerade Saison, und die Küste war voll von Fischkuttern, doch wonach genau sie hier die Netze auswarfen, verstand ich leider nicht. Bald darauf kam ich an die Bahia Inutil und sah das gegenüberliegende Ufer; in einer Woche erst würde ich dort sein, denn es galt, die gesamte Bucht zu umrunden, ein Weg von etwa einhundertfünfzig Kilometern. Unterwegs schlug ich unzählige Mitfahrangebote aus – ich wollte Feuerland auf die richtige Art beenden. Endlich, am sechzehnten Dezember, genau zwei Monate nach meinem Aufbruch in Ushuaia, sah ich vor mir die kleine Stadt Porvenir, Fährhafen nach Punta Arenas und dem patagonischen Festland. Ich mietete mich in einem kleinen günstigen Hotel ein und ging los, um Alejandro zu besuchen und meinen Laptop abzuholen. Doch dort erstmal eine unschöne Überraschung: die Dinge, die ich ihm zur Aufbewahrung anvertraut hatte, lagen überall in seinem Haus verstreut, und bei dem Durcheinander, das dort herrschte, sah ich etwa die Hälfte jener Dinge nie wieder. Zudem hatte sich Alejandro mit einem kleinen Programm Zugang zu meinem Laptop verschafft, um damit im Internet surfen zu können. Dabei hatte er mein Benutzerkonto gelöscht, und nur mit Glück meine ganzen Fotos der bisherigen Reise unberührt gelassen. Da Porvenir zudem recht teuer war in Hinsicht auf Lebensmittel und Kommunikation mit meiner Familie in Übersee, setzte ich bald darauf mit der kleinen Fähre nach Punta Arenas über. Ich blickte…