Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 5
Durch verlassene Berge

Doch die Trockenheit der letzten Monate hatte den Grundwasserspiegel so weit absinken lassen, dass der Eimer wenige Zentimeter über dem Wasser hängen blieb. Zudem sah die Brühe nicht allzu sauber aus, also liess ich es sein, schulterte meinen Rucksack und vertraute aufs Glück – irgendwo würde ich schon Wasser finden. Früher als erwartet sah ich den zweiten Puesto, in einem breiten, stillen Tal direkt an einem kleinen Bach gebaut. Wie es aussah, wurde dieser Puesto noch hin und wieder von jemandem besucht; Kaffeepulver war da und ein wenig Pasta, ein Wasserhahn mit fliessendem braunen Wasser und vor der Tür genügend Holz für einen halben Winter. Da ich nicht glaubte, hier von jemandem gestört zu werden, machte ich es mir für den Rest des Tages bequem: ich spaltete Holz mit meiner Machete, was nicht besonders gut funktionierte, aber eine Axt liess sich nirgends auftreiben. Schliesslich ging ich herum und hackte die Holzpfosten der alten Zäune, die überall im Gebüsch herumlagen, zu handlichen kleinen Scheiten, die ausgezeichnet brannten. So machte ich im Ofen ein ordentliches Feuer, auf dem ich mir Mittag- und Abendessen zubereitete und so ausserdem das Benzin meines Kochers rationieren konnte. Ich wickelte mein Allzwecktuch um den Wasserhahn um den braunen Schmodder aus dem Wasser zu filtern und es direkt trinken zu können. Überall um die Hütte gab es Calafatesträucher, und mit einer kleinen Plastiktüte ging ich Beeren pflücken und bereitete mir zum Nachtisch einen Beerenpudding mit dem Pulver, dass ich aus El Calafate mitgebracht hatte. Dann, satt und ein wenig müde, sass ich am Tisch und studierte wieder die Karten und schaute mir den besten Weg durch die Berge aus. Als es dunkel geworden war nahm ich meinen Schlafsack und ging in das Nebenzimmer, wo zwei roh gezimmerte Betten standen, und in der kühler werdenden Luft der Nacht lag ich da und horchte nach draussen auf die Geräusche in den Bergen. Tags darauf setzte ich meinen Marsch nach Nordwesten fort, und ausser ein paar verstreuten Guanacos sah ich nichts…
Vor dem Hauptgebäude der Estancia türmten sich die Wollballen, doch von den Bewohnern war weit und breit nichts zu sehen. Ich vermutete, dass sie auf einer benachbarten Estancia mit anpackten – zur Zeit der Esquila wurde jede Hand gebraucht. Wie sonst sollte man zehntausend Schafe scheren? Wie ich nun nach Westen weitermarschierte, schien sich die Kordillere vor mir höher und höher aufzutürmen. Wie die Herrscher standen die schneebedeckten Berge über den braunen Hügeln des Vorgebirges. Aber es waren keine Herrscher, sondern nur Vorposten. Der eigentliche König der Gegend war das Eisfeld dahinter, dreihundert Kilometer in seiner Ausdehnung und im Westen an die Fjorde des chilenischen Archipels grenzend. Das breite Tal, durch das ich marschierte, schien von einem urzeitlichen Gletscher geformt worden zu sein, so wie die ganze Gegend. Und noch etwas anderes fiel mir auf: die Gipfel der Berge vor mir waren allesamt mit schneebedeckt und schienen unüberwindlich für einen einzelnen Fussgänger. Doch genau an dem Punkt, auf den ich jetzt zumarschierte, waren die Berge auf einer Breite von vielleicht fünf bis zehn Kilometern etwas weniger hoch, meist reichten sie sogar nichtmal bis zur Schneegrenze hinauf. Ich konnte den Cerro Sombrero ausmachen und rechts davon einen tiefer gelegenen Durchgang, eine Art Pass. Das nährte meine Hoffnungen, meinen Weg auch morgen noch wie geplant fortsetzen zu können. Denn mittlerweile war ich nahe an die Grenze des Nationalparks herangekommen. Nach den wie tot daliegenden Hügeln hinter mir war es gut, wieder etwas Wald und Wasser zu sehen; der Rio Guanano floss breit und türkisblau durch das Tal. Bei der vermeintlichen Hütte des Parkwächters baute ich mein Zelt auf und wartete, denn auch hier war niemand zu sehen. Nach einiger Zeit kam ein Fahrzeug die Strasse hinaufgefahren, und am Steuer sass Mariano, von dem ich schon von Peter wusste. Sein Posten war allerdings noch ein Stückchen weiter Flussaufwärts, und so packte ich alles auf die Ladefläche seines Wagens, wärend Mariano die Hunde des Gauchos versorgte, der in der Hütte lebte und arbeitete. Alle…
Am nächsten Tag kamen die Wissenschaftler an, die in der Gegend geologische Arbeiten durchführten. Mariano fungierte dabei als ihr Führer, da er ihnen mit seiner Kenntnis der Begebenheiten in den Bergen ringsum wertvolle Tipps geben konnte. Ich machte einen Tag Pause und hatte das Gelände meist für mich alleine, da die anderen mit dem Jeep in ein Nebental gefahren waren, um dort Gesteinsproben oder dergleichen zu nehmen. Die Geologie Patagoniens hatte mich selber schon eine ganze Weile interessiert, doch ich merkte, dass die Wissenschaftler nicht allzu keen waren auf die Anwesenheit eines Laien-Gringos, und so blieb ich bei der Hütte zurück und versuchte mir die Zeit zu vertreiben. Da waren ein paar Pferde, die die Parkwächter auf ihren Ausritten benutzten. Ich war natürlich erpicht darauf, meine in 28 de Noviembre gesammelten Erfahrungen zu vertiefen, und Mariano hatte sich einverstanden erklärt, mir ein Pferd „auszuleihen“, um die Grenzen des Parkes ein wenig zu erkunden. Als wir uns daran machten, eines der Pferde einzufangen, schien ihn diese Entscheidung dann doch etwas zu beunruhigen. „Diese Pferde sind nicht zum Reiten lernen gedacht,“ erklärte er mir, „sie sind manso, aber nicht manso-manso.“ Manso, das bedeutete soviel wie zahm oder gutmütig. Na prima, nachdem ich in 28 de Noviembre zuletzt auf einer Kreuzung aus Criollo und Pony hatte reiten müssen, sollte nun also ein richtiges Pferd her, mit Kraft und Nervosität und allem. Und tatsächlich hätte mich Juan Carlos nie auf ein solches Pferd steigen lassen, wie es nun Mariano von der Weide führte: ein schöner Brauner, vermutlich ein Criollo, und recht jung, so wie er sich aufführte. Denn jedesmal, wenn wir, vor allem ich, eine etwas zu hastige Handbewegung machten beim Satteln oder Anlegen des Zaumzeugs, zuckte das Pferd zusammen und wollte sich schier auf die Hinterbeine stellen, so dass ihm Mariano am Ende eine Fussfessel aus Leder um die Vorderläufe verpasste. Hier war Temperament am Start, und ich hatte wieder jenes etwas mulmige Gefühl beim Anblick all dieser Kraft, vor allem auch, weil…
Nachdem ich eine Weile herumgeritten war, kehrte ich zur Hütte zurück, um meinen Marsch durch das Gebirge zu beginnen. Ein letztes Mal liess ich mir von Mariano den Weg beschreiben, dann gaben wir uns die Hand und ich machte mich von dannen. Die massiven Felsformationen des Vorgebirges türmten sich vor mir auf, und hätte ich nicht gewusst, dass der Weg existierte, so wäre ich vermutlich schon bei deren Anblick ins Zweifeln geraten. Doch eine urzeitliche Kraft hatte wie mit einem riesigen Buttermesser ein schmales Tal in die Berge geschnitten, und am Ende dieses Tales ragte der Cerro Sombrero auf, von mir Cerro Samurai genannt, da mich seine Form eher an die Helme der Samuraikrieger aus den Kurosawa-Filmen erinnerte. Über weite Geröllfelder kletterte ich bergauf, kreuzte Wasserfälle und Flussläufe, von denen manche badewannenartige Aushöhlungen in die Felsen geschliffen hatten. Gegen Mittag war ich am Fusse des Berges angelangt, und konnte mich nun entscheiden, ob ich meinen Weg links- oder rechtsherum fortsetzen wollte. Laut Mariano war der Weg auf der linken Seite steiler und schwieriger, dafür kürzer. Der Weg zur rechten führte mehrere hundert Meter hinab in ein Flussbett, dann auf der anderen Seite alles wieder hinauf und, mit der Laguna Azul zur rechten, an der Bergwand entlang, bis hin zu einem riesigen, mehrstufigen Aufstieg über weitere Geröllfelder und Felswände. Diesen Weg nahm ich. Irgendwo hinter der höchsten Stelle lag der Lago Tannhauser, ein kalter Gebirgssee, dessen Abfluss, der Rio Perro, hinab zur Estancia Christina floss und dort in den Lago Argentino mündete. Durch den Reitausflug war ich erst recht spät weggekommen und musste mich nun ranhalten, um nicht im Dunkeln irgendwo in einem Geröllfeld zu stehen. Ich wollte den Lago Tannhäuser noch heute erreichen und dort mein Lager aufschlagen. Ein Felsstufe nach der anderen kletterte ich nach oben, und nun bekam ich auch eine Erklärung für diese kleinen runden Punkte, die ich auf den Satellitenkarten gesehen und die von oben wie die Sechs auf einem Würfel angeordnet waren: es waren kleine…