Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 4
Die großen Seen

Neben der Strasse, etwas tiefer gelegen am Ufer, war die Estancia Querencia. Dort erkundigten wir uns über die Gegend und erfuhren, dass es für uns nicht möglich wäre, weiterzufahren. Irgendjemand hatte sämtliche Estancias weiter im Westen gekauft, und aus dem riesigen Besitz, der sich daraus ergab, sollte nun offenbar ein Naturreservat entstehen. Das war dann auch die Erklärung, warum auf meinen Karten nichts davon eingezeichnet war; da gab es nur eine öffentliche Strasse bis zum westlichsten Punkt des Ufers. Die beiden Frauen drehten um, um irgendwo anders zu picknicken, ich dachte jedoch nicht daran, wieder zur blöden Ruta 40 zu fahren und blieb zurück. Dem Gaucho, mit dem wir uns unterhalten hatten, schien das gar nicht zu gefallen. Er forderte mich auf, ebenfalls zurückzufahren, da es hier kein Weiterkommen für mich gäbe. Ich bot ihm eine Zigarette an, aber er wollte keine und wies mich stattdessen an, mit dem Besitzer oder Boss zu reden, der die ganze Zeit über vor seinem Haus gestanden und sich über sein Handy mit jemandem unterhalten hatte. Ich stellte mich also hin und wartete auf das Ende des Gesprächs. Es wurde langsam Herbst, und die Pappeln mit ihren dunkelrot gefärbten Blättern gaben dem Gehöft eine Stimmung wie von Abschied. Dann war der Boss endlich fertig mit seinen Unterweisungen und wendete sich mir zu. Seine blauen zusammengekniffenen Augen blickten mich nicht allzu entspannt an. Blaue Augen, hier? Doch unwichtig nun, erstmal musste ich über mein Weiterkommen verhandeln. Ich grüsste auf Spanisch und unterbreitete mein Vorhaben, zu Fuss an den Upsala-Gletscher im Westen zu gelangen. Noch nie war mir auf einer Estancia die Erlaubnis zum Durchmarsch verwehrt worden; so erlebte ich es hier zum ersten Male. Denn der Verwalter – das war seine wirkliche Aufgabe – blieb hart. Niemand, der nicht zur Estancia oder dem Team der Wissenschaftler gehörte, die hier in der Gegend arbeiteten, durfte durch das Gatter. Ich bin nicht allzu diplomatisch veranlagt, und wenn jemand stur auf seinem „Nein“ beharrt, sehe ich meist kein…
Doch obwohl wir nun gut miteinander zurechtkamen, konnte oder wollte mir Peter keine Erlaubnis geben zum Durchmarschieren an den Brazzo Norte. Das einzige, was mir offenbar blieb, war, das Naturreservat weiträumig zu umgehen und weiter im Nordwesten die Station der Parkwächter aufzusuchen. Mir fehlte nämlich eine Sondererlaubnis, den Nationalpark an einer anderen Stelle als an den für die Touristen eingerichteten Zugängen zu betreten. Laut Peter konnte ich eine solche Erlaubnis aber nur in El Calafate, dem Hauptquartier der Parkverwaltung, erhalten. Es war klar, das mich keine zehn Pferde zurück in diese Stadt bringen würden, und so spielte ich bereits mit dem Gedanken, mich klammheimlich durch die Berge zu schmuggeln. Ich wusste allerdings nicht, ob der Weg durch die Kordillere im Westen der Parkstation zu Fuss so ohne weiteres möglich war. Ich verglich meine sämtlichen Karten miteinander, und auf den Satellitenbildern sah es so aus, als gäbe es zwischen zwei Seen, der Laguna Azul und dem Lago Tannhaeuser, einen weniger hoch gelegenen Pass. Scheinbar die einzige Möglichkeit, in die tiefer gelegene Ebene im Westen und zur Estancia Christina zu gelangen. Peter zeigte mir auf meiner ungenauen Karte noch den ungefähren Standpunkt von zwei verlassenen Puestos, die jeweils im Abstand von etwa einem Tagesmarsch in den Bergen lagen. Seit das grosse Projekt mit dem Naturreservat im Gange war, gab es hier nämlich keine Viehzucht mehr, und die Berge im Norden waren somit völlig verlassen. So machte ich mich also auf den Weg nach Norden, zum höchsten Berg der Gegend, an dessen Fusse ich den ersten Puesto finden sollte. Tagelang war das Wetter schön gewesen, doch wie ich nun auf einem alten Weg der Estancia in die Hügel stieg, zogen sich über den Bergen des Eisfeldes dichte Wolken zusammen, und es begann zu regnen. So sah ich also von den Bergen und dem dahinter liegenden Eisfeld – gar nichts. Die Ungewissheit, ob ich überhaupt an den Upsala-Gletscher gelangen könnte, lag mir auch etwas schwer auf dem Gemüt, so dass ich mich nicht allzu…
Ich sank zurück und schloss die Augen. Ich hatte das Szenario schon ein paarmal im Kopfe durchgespielt; ohne so etwas banales wie einen Topf auszukommen war schwieriger und aufwändiger, als man zunächst vermuten mag. So mancher fettarschige Survivalkurs-Teilnehmer mag da mir gegenüber im Vorteil sein, da er weiss, wie man durch eine mit Folie ausgekleidete Grube im Boden oder dergleichen das Kochutensil ersetzen kann. Mir hingegen blieb nur folgendes: ich musste mein treues Konservendosenangelgerät auseinandernehmen, um mir darin wenigstens eine kleine Mahlzeit Kartoffelpüree zubereiten zu können. Zurück zur Estancia Querencia, nur um mir einen Topf auszuleihen, war nicht. Ich hoffte, irgendwo vor mir in den Bergen auf Menschen zu treffen, die mir damit aushelfen konnten. So verabschiedete ich mich innerlich von meinem treuen Topf, der schon in Norwegen dabei gewesen war, kroch in den Schlafsack und wartete auf den Schlaf. Es galt nun, in diesen ausgetrockneten Bergen nicht nur Wasser, sondern auch einen neuen Topf zu finden, auf der Strasse im Norden zur Hütte der Parkwächter zu gelangen und dort eine Erlaubnis für den Nationalpark zu erbetteln – wenn ich denn ohne weitere Ausrüstung überhaupt durch die Kordillere würde klettern können! Der Gedanke, eventuell die Eisberge und den Gletscher und die ganzen Bergseen und Lagunen nicht zu Gesicht zu bekommen, im Gegensatz zu den schlaffen Touristen, die fünfzig Dollar auf den Tisch legten für einen Bootsausflug zur Estancia Christina, nagte in meinen Eingeweiden. Ich würde alles tun, um es nicht dazu kommen zu lassen. Am nächsten Morgen war ich schon wieder etwas zuversichtlicher. Ich packte alles zusammen und fing an, den Berg vor mir zur Rechten zu umrunden, das schien mir der einfachere Weg. Bald darauf kam ich an einen verlassenen Korral, und als ich etwas näher kam, sah ich hinter einer Erhebung versteckt das Dach des Puestos, den ich gestern vergeblich gesucht hatte. Ich rüttelte an der ersten Tür – sie war mit einem massiven Eisenschloss gesichert. Die zweite Tür war offen, und ich betrat die kleine, stabil gebaute…