Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 2
Das Festival de la Esquina

Ich hatte die Radfahrer, die ich unterwegs traf, manchmal um ihre Geschwindigkeit beneidet – bei einer Radtour kommt eine ganz andere Dynamik auf als bei einem Fussmarsch. Doch der Radfahrer muss immer auf der Strasse bleiben, und wie ich jetzt auf der Ruta 9 nach Süden fuhr, wurde mir wieder klar, warum ich nach meinen letzten Radtouren unbedingt zu Fuss los wollte. Was für ein Unterschied waren die vier Tage, die ich für die hundertfünfzig Kilometer nach Villa Tehuelches benötigte zu den fast zwei Wochen, die ich in den Bergen an der Küste verbracht hatte! Man fährt auf der Strasse und ahnt gar nicht, was sich wenige Kilometer jenseits davon abspielt. Die Sache mit dem Fahrrad war natürlich eine einzige Schnapsidee; ich wurde krank, da ich das Wasser direkt aus dem Rio Rubens getrunken hatte, und das Wetter spielte verrückt und der Wind blies mich tot. Endlich in Villa Tehuelches angekommen baute ich mein Zelt wieder auf und machte einen kleinen Rundgang durch den Ort. Überall waren alle eifrig mit den Vorbereitungen beschäftigt. Das grosse Ereignis des Jahres stand unmittelbar bevor. Ich traf hier und da Bekannte von meinem Aufenthalt von vor zwei Wochen. Alles war echt chilenisch, Touristen waren kaum zu sehen. Mit ein paar Stunden Verspätung startete das Festival dann in den brütend heissen Nachmittag. Es wurden zunächst hauptsächlich Musik und Folkloretänze dargeboten, bei denen Caballeros mit Sporen an den Stiefeln und Ponchos über der Schulter tücherschwenkend um Mädchen herumtanzten, die in bäuerlich wirkende Röcke gekleidet waren. Dabei lächelten die Tänzer in einem fort, was bestimmt nicht einfach war bei der Anstrengung und der Hitze. Danach gab es Klamauk-Nummern, bei denen der Ansager von einer schmuddeligen Alten besprungen wurde, und schliesslich wurde auch die namensgebende Esquilla gezeigt, bei der ein komplettes Schaf in etwa anderthalb Minuten geschoren wurde. Nebenan auf einer eingezäunten Wiese lief gleichzeitig eine Jinetada ab, bei der Reiter aus den umliegenden Nachbarländern teilnahmen. Auch die beeindruckenden Fähigkeiten der perros de oveja wurden gezeigt. Ein Hund…
Juan Carlos und seine Lebensgefährtin Fabiana hatten mich nicht so früh zurückerwartet, doch nun stand ich da und wollte alles über die Criollos lernen. Fünfzehn Tage, hatte Juan Carlos gesagt, würde es mindestens dauern, um einen brauchbaren Reiter aus mir zu machen. Um die Beiden nicht übermässig zu strapazieren, quartierte ich mich in der kleinen Herberge „Don Jorge“ ein, wo ich den Preis noch etwas herunterhandeln konnte. Ausserdem war das Zimmermädchen sehr schön. Die Argentinier haben eine ausgesprochen gelassene Art, einem Gringo das Reiten beizubringen. Kurz werden vor dem ersten Satteln die wichtigsten Grundregeln angesprochen, wie etwa „Gehe nie hinter dem Pferd hindurch“, „Wenn du nicht willst, dass das Pferd frisst, dann binde es weiter oben am Pfosten an“ usw., dann geht es auch schon ans Eingemachte. Ich kann nicht sagen, dass ich nicht etwas nervös gewesen wäre, als meinem Pferd, einem kleinen alten Mestizen, der Sattel aufgeschnallt wurde, nicht zuletzt, weil das Tier übelgelaunt um sich biss, doch kaum sass ich im Sattel, fühlte ich mich besser. Im Gegensatz zum steifen und aristokratisch wirkenden europäischen Reitstil hält der Argentinier die Zügel nur mit einer Hand, in der anderen Hand hat er meist eine Art Peitsche aus Leder, oder auch eine Machete oder Zigarette. Sehr sympathisch. Wir ritten los Richtung Julia Dufour, einer kleinen Nachbarortschaft, und nach zehn Minuten versuchten wir den ersten Trab, und gleich danach bereits den Galopp. Im Laufe der Tage lernte ich immer besser, mich im Sattel zu halten, wobei ich vor allem darauf achten musste, locker in der Hüfte zu bleiben. Dazwischen arbeiteten wir an der neuen Webseite für Juan Carlo’s Organisation. Eine Menge Leute gingen in der Chacra aus und ein, allesamt Freunde meiner beiden Gastgeber. Juan Carlos hatte seine Arbeit bei der Municipalidad aufgegeben, um sich ganz der A.C.C.A.E.D. widmen zu können, doch in den Tagen, die ich dort war, sah ich kaum jemals einen Kunden. Es war auch irgendwie seltsam, zu sehen, mit wie wenig er und Fabiana auskommen mussten, obwohl Fabiana…
Meine über zwanzig Jahre alte Karte des Instituto Geographico Militar verzeichnete einen Weg nach Norden, den es nach der Aussage der Leute, die ich am Strassenrand fragte, gar nicht gab. Blieb mir also nur die Ruta 40. Es wurde mir bald wieder zu dumm, auf einer Strasse dahinzumarschieren, und ich stieg in die Hügel in Richtung der Cordillera Chica, von den Einheimischen auch liebevoll „falsche Kordillere“ genannt. Kleine weisse Margeritas bedeckten die Wiesen wie ein Teppich. Ich war froh, wieder mit mir selbst unterwegs zu sein. Dennoch lag mir der vorzeitige Abschied von Juan Carlos und Fabiana etwas schwer im Magen. Seltsame, schnurgerade Wege durchkreutzen die Landschaft, exakt nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet. Da die chilenische Grenze nur wenige Kilometer entfernt war, vermutete ich eine Art militärstrategische Einrichtung. Ich benutzte einen dieser Wege, um auf direkte Art und schnell nach Norden vorzustossen. Hier sah ich nun erstmal ein Patagonien, wie ich es mir in Europa vorgestellt hatte. Eine vielleicht zwanzig Kilometer weite Ebene erstreckte sich vor mir, und an deren nördlichem Ende sah ich das Gebirge, kahl und trocken und sonnenverbrannt, und im Nordosten die Meseta Vizcachas, an deren Fuss ich die Estancia Vizcachas vorfinden sollte. Im Westen, klein und halb hinter Wolken versteckt, das Torres del Paine-Massiv. Es war aus dieser Distanz von fast hundert Kilometern vielleicht nicht ganz so imposant, dafür umsonst. Nun, beim Marsch durch diese Landschaft, auf die die Sonne meist unerbittlich herunterbrennt, stellte sich mir zum ersten Mal die Frage: wo gibt es Wasser? Keine Flüsse waren in der Karte eingezeichnet, nur hier und da ein paar Lagunen, meist salzig. Es gab vereinzelte Estancias am Fusse der Berge, die zu erreichen aber einen erheblichen Umweg bedeutet hätte. Ich vertraute auf mein Glück und marschierte weiter nordwärts. Anderthalb Tage fand ich kein Wasser. Bis auf eine schmutzige und schlammige Schafstränke, an der ich mir zum Kochen Wasser in meine Thermosflasche füllte. Bei der Gelegenheit fiel mir meine Kamera aus der Hemdtasche und in die brackige Brühe. Ich…
Ich war mal wieder pünktlich zum Mittagessen eingetroffen und rammte mir die Fleischstücke mit den Kartoffeln ins Gesicht. Der Fluss führte mehr Wasser, als ich es in so einer trockenen Gegend vermutet hätte, und am Ufer rauschten die Bäume im Wind. In solchen Momenten wird einem klar, was Oasen sind. Die Besitzer des Gutes wollten aber, als ich sie um einen Lagerplatz bat, dass ich mein Zelt ausserhalb des Grundstückes aufbaute. Warum ausserhalb? Hatten sie Angst, dass ich mit meinen staubigen Klamotten ihren Rasen beschmutzte? Ich hatte noch genug von den letzten Tagen und wollte niemandem zur Last fallen. Ich zog weiter. Wie unterschiedlich die Menschen sein können. Als nächstes traf ich einen Reiter von der Nachbarestancia. Als er über die Hügelkette geritten kam und mich am Flussufer entlangmarschieren sah, schien er kurz zu stutzen. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und kam den Abhang hinabgaloppiert. Wenige Meter vor mit brachte er sein Pferd zum Halt und stieg ab, um mir die Hand zum Gruss zu geben. Wärend wir uns unterhielten, jagten seine drei Hunde einen kleinen grauen Fuchs. Das Tier hatte keine Chance, und die Hunde spielten mit ihm wie die Katze mit der Maus. „Jetzt töten sie ihn“, sagte der Gaucho, und tatsächlich blieb von dem Fuchs nicht viel übrig. Mein Gegenüber hatte eine Bola dabei; damit fing er sich hin und wieder einen leckeren Ñandu. Ich durfte die Bola einmal probeschleudern, und war über das Gewicht ziemlich erstaunt – mit sowas hatten die Tehuelche also auf fünfzig bis sechzig Meter punktgenau getroffen… Mein neuer Bekannter lud mich noch auf die Estancia ein, doch ich hätte kilometerweit zurückmarschieren müssen und lehnte daher dankend und nicht ohne ein wenig Bedauern ab. An einer Flussbiegung schlug ich mein Lager auf und verbrachte dort einen ruhigen Pausentag. Ich fing einen Lachs und briet ihn mir auf einem Stein, den ich im Feuer erhitzt hatte. Der Weg durch die Ebene war nun zurückgelegt, und das Gebirge wartete auf mich. Kurz vor…