Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 6
Der Nationalpark los Glaciares

Wie von Mariano beschrieben stürtzte der Rio Perro jenseits des Südufers des Lago Tannhäuser die Felsen hinunter. Ich folgte dem Fluss zunächst nicht, sondern kürzte den Weg über die Geröllfelder daneben ab. Bald war ich wieder unterhalb der Vegetationsgrenze, und zwei Spezies von kleinen roten Beeren, von denen ich wusste, dass sie essbar waren, wuchsen in Massen zwischen den Steinen. Ich liess mich einfach auf die Knie nieder und ass die süss schmeckenden Gewächse direkt von der Wiese, wie damals am Lago Kami, als ich den Löwenzahn probiert hatte. Unterhalb der Baumgrenze sah ich die ersten roten Blätter des nahenden Herbstes. Ich hatte dabei das Gefühl, in meiner Reise schneller vorankommen zu müssen – seit Monaten marschierte ich jetzt schon, doch noch nichtmal die Hälfte war geschafft. Hatte ich mich in Deutschland nicht gefragt, was ich nach den drei Monaten, die ich für Patagonien eingeplant hatte, anfangen würde? Ich hatte eine Menge Umwege und zick-zack mässige Routen gewählt, weil die Orte, die mich interessierten, nicht immer wie aufgereiht in einer Reihe lagen. Dennoch merkte ich, wie mich der Alltag, die ewig gleichen Rituale bei der Ankunft auf einer Estancia, die immergleiche Vegetation und kaum erkennbare Tierwelt etwas weniger zu interessieren begannen als noch am Anfang der Reise. Ich musste mich ranhalten und vorwärtskommen. Beim Weg hinab ins Tal sah ich durch die Bäume zum ersten Mal die Estancia Christina. Irgendein Wagehals hatte vor über hundert Jahren hier eine Viehzucht aufgezogen und war damit reich geworden. Als der Nationalpark geschaffen wurde, kam auch der Alltag auf der Estancia zum erliegen, bis dann ein anderer cleverer Mensch vor wenigen Jahren die Gebäude zu einer Hosteria umgebaut hatte, zu der jetzt die Touristen aus El Calafate geschifft wurden. Ausserdem war es ein wichtiger Anlauf- und Endpunkt für viele Expeditionen, die hier nach Wochen im Eis zum ersten Mal wieder in Kontakt mit der Zivilisation kamen. Und ich kann mir vorstellen, dass kein Einziger von ihnen mit einem schlechten Gefühl von dieser Estancica wegging…
Korbsessel, alte Utensilien der Estancia an den Wänden, eine Reihe von hübschen Mädchen, die hinter der Theke und mit den Tischen beschäftigt waren. Ich bestellte den Kaffee, die junge Dame ging weg, um einen Führer zu holen, der mir Infos über die Gegend und den Weg an den Upsalagletscher geben konnte. Während ich schlürfte, tauchte ein junger Bursche von vielleicht zwanzig Jahren auf. Er stellte sich als Juan vor und ich brachte meine Fragen an: viele Stunden Marsch bis zum Gletscher, und gab es dort eine Schutzhütte? Wo konnte ich den Fluss durchqueren, der aus der Laguna Anita in den Brazzo Norte floss? Er kannte die Gegend offenbar ganz gut und gab mir bereitwillig Auskunft. Dann verschwand er in der Küche, um sich mit dem Koch über die Lebensmittelsituation zu unterhalten. Als er zurückkam, unterhielten wir uns noch ein wenig. „Ich bin immer bei den Pferden. Wenn du noch etwas brauchst, findest du mich dort.“ Dann stand auf einmal der Koch neben mir, mit einer ganzen Ladung von Dingen. Feinstes Fleisch, Kekse, Biskuits, alles was ich benötigte wurde mir in die Hand gedrückt. Nordeuropäisch unbeholfen fragte ich nach dem Preis. Doch natürlich wollte niemand irgendetwas annehmen. Ich war wie immer etwas ratlos bei soviel Grosszügigkeit. Aber ich hatte ja noch den Kaffee, den ich bezahlen konnte! Wieviel kostete der? Nach einem kurzen Blick zu der jungen Dame hinter der Theke sagte Juan „tampoco“, genausowenig. Verdammt, wie hatte ich über diese Estancia jemals schlecht denken können? Als ich dann alles in meinem Rucksack verstaute, kamen noch zwei schöne Mädels an, um sich ein wenig zu unterhalten – die richtige Kur nach tagelangem Marsch durch einsame Natur! Ich hatte das OK erhalten, etwas abseits mein Zelt aufzuschlagen, und abends machte ich mir zur Abwechslung mal wieder einen deftigen Eintopf mit dem Fleisch, das weder Knochen noch Sehnen hatte und fein wie Butter war. In meinem neuen Topf konnte ich extragrosse Portionen zubereiten und wurde so einigermassen satt. Am nächsten Tag wartete der…
Nach einiger Zeit erreichte ich den Aussichtspunkt unweit des Refugios Upsala. Eine Gruppe Touristen aus El Calafate war gerade mit den Geländewagen der Estancia hierhergebracht worden. Ich hatte keine Ahnung, wo die Strasse verlief, auf der sie hergekommen waren. Jedenfalls hatte ich in der Schlucht ein paar Berechnungen angestellt und gemerkt, dass ich zuwenige Lebensmittel dabeihatte, um die Estancia Helsingforth am Lago Viedma zu erreichen. Ein weiblicher Guide mit einer Gruppe Touristen kam mir entgegen, und ich bekam ein Bussi auf die Wange gedrückt. Dann fragte ich sie, ob es möglich wäre, ein Kilo Nudeln von der Estancia hierherzuschaffen, zum Beispiel mit den Ausflüglern, die morgen zur selben Zeit zum Refugio gebracht werden würden. Kein Problem, sagte sie, ich solle mir nur keine Gedanken machen – einer der Führer würde die Lebensmittel morgen mitbringen. So brauchte ich nur den restlichen Tag im Refugio zu verbringen und am nächsten Tag auf meine „Lieferung“ zu warten, um mich dann ohne Druck im Nacken auf den Weg durch das Tal des Rio Norte machen zu können. Die Touristen schoben ab, und ich hatte den Ort für mich. Ich denke mir, dass das Foto der Szenerie in diesem Fall für sich selber spricht. Über dem Eisfeld hing eine dichte Wolkendecke, und es schien verrückt, dort irgendwelche Expeditionen durchzuführen – und doch gab es dutzende Unternehmungen in der Vergangenheit, die dort durch gekommen waren. Abends richtete ich mich im Refugio ein, und der Wind draussen nahm an Stärke zu. An den Wänden des Refugios hingen Fotos der bekannten Erstbesteigungen in der Gegend, und ich muss sagen, dass ich einiges an Respekt für diese Menschen verspürte. Ich hatte es gerade mal bis zum Refugio Upsala geschafft, was für die Leute, die aus dem Eisfeld hierher kamen, vermutlich eine Art Himmel auf Erden sein musste nach den Tagen oder Wochen im Eis. Am nächsten Tag brachte ich es nicht über mich, bis nachmittags um drei zu warten, wenn die Leute der Estancia wieder vorbeischauen würden. Ich musste…
Am Fluss angekommen entschied ich mich, erst eine Probedurchwatung zu machen, ohne Rucksack, um die Stärke der Strömung und die Tiefe des Flusses kennenzulernen. Die Strömung war stark, und überall lagen grosse Steine mitten im Wasser, über die man hinwegsteigen musste. Das Wasser reichte bis zur Hüfte, so dass die Sachen nicht nass werden würden. Ich watete zurück zum Rucksack, und weil das Ganze eh schon bekloppt genug war, entschloss ich mich, mit dem Selbstauslöser ein Foto der Szene zu schiessen. Doch die Kamera hatte einen Timer von maximal dreissig Sekunden, so dass ich mich ziemlich beeilen musste, ins Bild zu waten, nachdem ich den Auslöser gedrückt hatte. Nach ein paar Beinahe-Ausrutschern war ich endlich drüben angekommen und setzte den Rucksack ab. Nun musste ich aber wieder zurück ans andere Ufer, um die Kamera zu holen. Meine Beine waren schon ziemlich taub von der Kälte des Gletscherwassers, als ich auch das schlussendlich erledigt hatte. Ich hatte den Fluss sechsmal durchwatet und erstmal genug davon. Ich schaute mir das Foto an: da war ein Fluss zu sehen mit Steinen und Bäumen, alles wunderschön, doch von mir selber war weit und breit nichts zu sehen. Ich war zu früh oder zu spät durch das Bild gewatet. Doch die Erleichterung, diese Herausforderung gepackt zu haben, überwog, und ich machte mich auf zum Eingang des Tales am Ostufer der Laguna Anita, deren Abfluss ich gerade durchquert hatte. Dort angekommen entdeckte ich etwas, was eigentlich nur von anderen Wanderern hinterlassen worden sein konnte. Denn diese Anhäufung von Zweigen und Steinen im sandigen Flussufer, auf die ich dort hinabblickte, hatte die auffallende Form eines Pfeiles. Und dieser Pfeil zeigte ans andere Flussufer. Schon wieder ins Wasser? Wenn es irgendwie ging, wollte ich das vermeiden und erkundete erstmal ein wenig die Gegend flussaufwärts. Tatsächlich schien meine Seite die schwierigere zu sein, doch nicht unmachbar. Und ich wollte lieber über ein paar Felsen klettern, als mir nochmals die Füsse nasszumachen. Das Vorwärtskommen war sehr schwierig, und ich erinnerte…
Ich kletterte hinauf, bis es nicht mehr weiterging. Ich schaute mich um: vor mir schoss das Wasser mit hoher Geschwindigkeit über ein paar flache Felsen, um danach mehrere Meter in die Tiefe zu stürzen. Einfach weiter am Ufer hinaufklettern konnte ich nicht, da ein tiefes Becken mir den Weg versperrte, dahinter ragte steil die Felswand auf. Würde ich also durch dieses wild hinabschiessende Wasser waten müssen? Allein der Gedanke verursachte mir Gänsehaut. Das gegenüberliegende Ufer war etwa fünf Meter entfernt, doch dazwischen gab es nichts, woran ich mich hätte festhalten können. Ich setzte den Rucksack ab, zog Jacke und Schuhe aus und machte vorsichtig einen Schritt vorwärts. Das Ganze schien mir einem Roulettespiel zu gleichen, allerdings mit drei Kugeln anstatt einer. Würde ich den Halt verlieren, was mir ziemlich warscheinlich schien, würde ich über die Kante des Felsens gespült werden und mehrere Meter in die Tiefe fallen. Dort unten schoss das Wasser genauso wild dahin, um danach über eine weitere Stufe zu fallen. Das Ganze glich einem Albtraum. Aber ich musste hier durch! Wo sonst führte ein Weg? Das Tal, das ich hinaufgekommen war, fiel zu beiden Seiten fast senkrecht ab. Nur am Anfang, vielleicht zwei Stunden zuvor, hatte ich eine Stelle am anderen Flussufer bemerkt, die über eine steile Böschung hinauf über die Felsen führte. Offenbar hatte ich die richtige Abzweigung verpasst, denn ohne weitere Ausrüstung, zumindest einem starken Bergsteigerseil, diesen steilen Wildbach zu durchqueren, schien mir ein Spiel mit dem Tod. Doch zwei Stunden zurücklatschen? Niemals. Also musste ich einen Weg finden. Ich hangelte mich an den Felsen vorbei an dem tiefen Wasserbecken, doch dahinter verschwand mein Trekkingstock vollständig in den Fluten, als ich die Tiefe Flusses damit prüfen wollte. Also wieder zurück. Unten am Fluss, wo das Wasser wieder ruhiger floss, war die Felswand so steil, dass ich ohne zu fliegen nicht hinaufkommen würde. Eine Stufe weiter oben rückten die Felsen näher zusammen, doch dort schoss das Wasser mit einer solchen Gewalt dahin und war so tief,…
Nach zwei Stunden überwand ich mich, stellte den stummen Kampf mit dem Wasserfall ein und ging einige hundert Meter in meinen Fußstapfen zurück. An einer besonders engen Stelle überquerte ich den Fluss, kletterte anschließend die Böschung hinauf und kroch auf einem kaum zwei Meter breiten, mit Gras bewachsenen Stück über den steilen Abgrund hinweg. Ich markierte den Ort mit einem kleinen Steinhaufen, um anderen Wanderern den Weg zu erleichtern. Als ich lagerte, fand ich alte Kochtöpfe und Glasflaschen unter den Bäumen verteilt. Wer war hier durchgekommen, seine Kochutensilien in der Gegend verstreuend? Am folgenden Tag marschierte ich am Südfuß des Cerro Norte durch ein langgezogenes Tal. Bald sah ich vor mir eine Wand aus Stein aufragen, als sei ein riesiger Teil der Bergflanke in einer gewaltigen Lawine hinabgekommen. Die Wand ragte fast bis in die Mitte des Tales, wo sich ein kleiner Fluss schlängelte. Nachdem ich die haushohe Geröllwand erklommen hatte, sah ich, dass sie den Rand eines natürlichen Beckens bildete, angefüllt bis oben hin mit eiskaltem Wasser. Den Gletscher konnte man von unten nicht sehen, weshalb sein Anblick umso überraschender war. Ich fotografierte die bizarren Eisformen der Gletscherzunge, die wie das Rückgrat eines riesigen urweltlichen Tieres in die Höhe ragte. Gegen Abend hatte ich den nördlichen Teil des Tales erreicht. Kleine, klare Seen säumten meinen Weg, ohne einen einzigen Fisch. Der Wundersee, von dem Mariano erzählt hatte, musste woanders liegen. Ich lagerte vor einem riesigen Felsdom, dessen Spitze hoch oben in den Nebeln verschwand. In der Nacht wechselte die Windrichtung, und heftige Böen versuchten, mein Außenzelt fortzureißen, das sich aufblähte wie ein Fallschirm. Kurz vor dem Ende des Tales sah ich am kommenden Morgen zu meiner Überraschung Stiefelspuren im lehmigen Boden. Ich folgte ihnen und entdeckte ein abgebautes Lager, das so verstaut war, dass es jederzeit wieder errichtet werden konnte.
Wer trieb sich hier herum und benötigte dazu ein Nachtlager? Denn es gab nichts, außer der szenischen Schönheit der Landschaft, was die Anstrengungen gerechtfertigt hätte. Woher kam der Unbekannte? Zur Estancia Christina war es mehr als ein Tagesmarsch, und vor mir lag ein steiler Abstieg und nach einem weiteren vollen Tagesmarsch, eine einzelne Estancia. Die Spuren waren noch sehr frisch, so dass jemand vor kurzem hier gewesen sein musste. Bei einem langen und anstrengenden Abstieg durch ein Geröllfeld verlor ich meinen Wanderstock, der glatt in der Mitte durchknickte, als ich das Gleichgewicht verlor und nach vorne fiel. Anschließend erreichte ich einen langen, in einem natürlichen Halbrund verlaufenden Abhang, im Hintergrund türmten sich die Fjorde und unpassierbaren Berge im Westen des Lago Viedma auf. Vor mir, aber auf der anderen Seite des Abhangs, lag der See. Mein Magen sehnte sich nach zarten Forellenfleisch, ich stürmte hinab ins Tal, ohne an die Warnung des Guides zu denken. Da in der Gegend schon sehr lange keine Kühe mehr gegrast hatten, war im unteren Bereich des Abhanges eine Art Wildwuchs an verschiedenen Sträuchern enstanden, etwa mannshoch und dicht beieinander stehend. Man hatte mir empfohlen, den weiten Umweg über die oberen Hänge zu nehmen, wo es zu steil war und die Sträucher keine Wurzeln schlagen konnten. So rannte ich praktisch ungebremst in die Vegetation hinein, nur um zu merken, dass es nach wenigen Schritten nicht mehr weiterging. Ich zog die Machete und hieb auf die Büsche ein, die nachgiebig und schwer zu durchschlagen waren, so dass ich es bald wieder aufgeben musste. Es blieb mir nichts übrig, als mich fluchend und schweißüberströmt durch das dichte und dornige Strauchwerk hindurchzuzwängen. Zerkratzt und erschöpft stand ich am Ufer des Sees. An einer windgeschützten Stelle baute ich mein Lager auf und erforschte mit meiner Angeldose den so oft erwähnten Mythos. Ich wurde nicht enttäuscht. Jeder Auswurf des Köders war ein Fang, und ich verspeiste an diesem und dem folgenden Tag ein gutes Dutzend Forellen, deren Fleisch manchmal weiß,…