Die Señalada
Ich strich jedenfalls die Rückseite der Garage zu Ende und verkündete Mario anschliessend, ich hätte nun noch ein paar Dinge mit meiner Mochilla zu erledigen. Ich dachte daran, den Nachmittag noch irgendwie mit den anderen zu verbringen, so viel wie möglich zu essen und am nächsten Morgen weiterzuziehen. Schliesslich kam mir mein eigenes Abendteuer auch nicht langweiliger vor als die für mich phantastisch wirkende Arbeit eines Gauchos auf einer Estancia.
Doch es sollte anders kommen.
Denn wie ich so dalag und mehr oder weniger auf das Abendessen wartete, stand auf einmal Francisco im Zimmer, der Sohn Eduardos, und lud mich spanisch sprechend zur morgigen Señalada ein – er machte dabei eine Handbewegung, als würde er ein Seil, an dessen unterem Ende ein Gewicht befestigt ist, durchschneiden. Zur Zeit der Señalada, die einmal im Jahr stattfindet, die jungen Kälber markiert werden, wobei den jungen Bullen zusätzlich die Hoden entfernt werden, was Francisco mit seiner Pantomime andeuten wollte. Ich sagte natürlich sofort zu, und Francisco riet mir, meine Kamera mitzunehmen, um möglichst viele Fotos zu schiessen. Wir verabredeten, dass er am nächsten Morgen mit dem Jeep vor dem Arbeiterhaus auf mich warten würde.
Und so fuhren wir am folgenden Tag in aller Frühe hinaus zum Corral, der sich rund fünf Kilometer weg von der Estancia im Hinterland befand.
Am Corall angekommen warteten wir auf die Reiter, die die Mutterkühe mit den Kälbern von der Weide und aus dem Wald in das Gatter treiben würden, wo die Tiere dann getrennt und „bearbeitet“ werden würden. Doch Sandro, Lilo, Eduardo und der Vater von Gaston, dessen Namen ich dauernd vergass, waren nirgends zu sehen, und so unterhielten wir uns auf Englisch über die verschiedensten Dinge, so z.B. die Zukunftspläne Franciscos, der nach Buenos Aires auf die Uni wollte, um eine „Career“ zu machen. Nebenbei erzählte er mir, wie wertvoll Sandro für die Estancia war, Aufgrund seines Wissens über die Tiere und die Arbeit und seiner Fähigkeit, zuzupacken wie kein anderer. Ich sprach das indianische Aussehen Sandros an, und erfuhr, dass er einen Ona – Nachnamen hatte. Später fragte mich Sandro einmal, ob es in Deutschland Guanacos gäbe, was mich überraschte und gleichzeitig an eine Passage aus „At Home with Patagonians“ erinnerte, den Reisebericht eines englischen Offiziers, der im Jahre 1832 mit einer Gruppe Tehuelche die patagonischen Steppen durchquert hatte. Eines Tages wurde er von einem der Tehuelche gefragt, ob es in England Guanacos gäbe. Als er verneinte, fragte ihn der Indianer, was denn das für ein erbärmliches Land sei, ohne Guanacos zum jagen! Vielleicht täusche ich mich, aber ich denke, nur ein Indianer kann in seiner Arbeit und seinem Land so aufgehen, dass er sich nicht die Bohne um andere Kulturen und Gepflogenheiten zu scheren braucht. Vielleicht kamen Sandros überlegene Fähigkeiten auch von diesem Desinteresse an allem, was nicht zu seinem Alltag gehörte?
Es verging eine geraume Zeit, bis die Reiter alle Kühe aus dem schützenden Wald und auf die den Corral angrenzende Weide getrieben hatten; schlussendlich waren es rund hundert Kühe mit einundachzig Kälbern. Perfekt wäre es, erklärte mir Francisco, wenn diese Quote hundert Prozent betrüge, wenn also jede Kuh ein Kalb hätte, was wohl schwer zu erreichen sein wird.
Die Reiter stiegen nun zunächst von den Pferden, unter ihnen auch Eduardo, bekleidet mit Ledergamaschen, und führten ihre Tiere in einen abgegrenzten Bereich des Corrals. Anschliessend begann das Trennen der Mutterkühe von ihren Kälbern.
Da Francisco über den Holzzaun kletterte, um mitzuhelfen, tat ich es ihm gleich. Mit Pfiffen und Armwedeln wurden die jungen Kälber in den Vorraum des Bereichs getrieben, in dem der eigentliche Markierungs- und Kastrierungsvorgang vonstatten gehen sollte. Den Männern war dabei die Anspannung deutlich anzusehen – vielleicht auch, weil sie es gewohnt waren, vom Rücken ihrer Pferde aus zu arbeiten.