Mit dem Rad an den Polarkreis

Kapitel 1
Der Härtetest

Leider hatte ich auf dieser Reise keine Kamera dabei, ich hoffe jedoch, dass der Text eine gute Vorstellung von dem gibt, was ich erlebt habe.   „Bei diesem Vorhaben können wir Sie nicht unterstützen – es ist zu extrem!“ Damit war das Gespräch beendet. Die Person, mit der ich gesprochen hatte, war Mitarbeiter des norwegischen Fremdenverkehrsamtes. Der müsste es ja eigentlich wissen, dachte ich mir. In seiner Antwort schien die ganze Rechtschaffenheit des „Vernünftigen“ mitzuschwingen. Zum Glück habe ich nicht auf ihn gehört. Nach einer eher kurzen Vorbereitungszeit und nachdem meine letzten Zweifel hinsichtlich der Machbarkeit dieser Tour überwunden waren, fuhr ich am 10. Februar 2004 mit dem Zug in Hamburg los Richtung Norwegen. Mein Fahrrad in eine Gewerbeplane aus dem Baumarkt eingewickelt und die Ausrüstung in einen Tramperrucksack gestopft hoffte ich, ohne Probleme in sämtliche Züge gelassen zu werden. Laut Auskunft der Deutschen Bahn hätte ich bis Trondheim fünf mal den Zug wechseln müssen – schlussendlich wurden es dann sieben mal, bis ich endlich am Startpunkt der Tour angelangt war. Ich besorgte mir noch ein paar Ausrüstungsgegenstände sowie meine Verpflegung für die ersten paar Tage, montierte den hinteren und vorderen Gepäckträger an mein Rad und hoffte inständig, dass die Wettervorhersage, nach der es in den kommenden Tagen Regen geben würde, nicht stimmte. Doch leider sollte der norwegische Wetterdienst Recht behalten, und am Morgen des 12. Februars, dem Tag meiner Abfahrt aus der Jugendherberge in Trondheim, herrschte Tauwetter und – es regnete! Und das obwohl es zwei Tage davor nachts noch minus 19 Grad kalt gewesen war. Doch ich sollte noch ausgiebig Gelegenheit erhalten, die Unberechenbarkeit des norwegischen Wetters kennenzulernen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mein Vorhaben auszuführen.
Ich fuhr also los, meine Sachen wasserdicht verpackt und mit Gamaschen über den Schuhen, vorbei an den Menschen, die an den Bushaltestellen standen und mich verdutzt anguckten. Und, um ehrlich zu sein, ich wusste in diesem Moment selber nicht so recht, was ich da eigentlich genau verloren hatte. Es regnete pausenlos und die Strassen, besonders die Radwege, die ich am Anfang noch benutzte, waren dick vereist. Der schlimmste denkbare Fall war prompt am ersten Tag eingetreten! Ich fuhr zunächst langsam und vorsichtig, ich lernte das ungewohnte Gewicht des voll beladenen Fahrrades gerade erst kennen. Glücklicherweise hatte ich mich für Reifen mit Spikes entschieden, dennoch wurde es manchmal etwas brenzlig, wenn der Radweg steil bergab ging und die Bremsen scheinbar keine Wirkung mehr zeigten. Ich zitterte mich also vorwärts, denn ich bin alles andere als ein mutiger Eis-Fahrer, auch wenn sich das im Verlauf der Tour vielleicht etwas geändert hat. Bald schon merkte ich, dass ich die Vorräte, die ich für teures Geld im Supermarkt gekauft hatte, im Kühlschrank der Jugendherberge hatte liegen lassen. Das hob meine Stimmung natürlich auch nicht unbedingt an, dennoch kam ich einigermaßen voran, bis ich in einer kleinen Ortschaft namens „Hell“ (wie passend) bemerkte, dass meine hinteren Bremsklötze zu drei Vierteln abgenutzt waren, und das nach nur etwa 30 Kilometern Fahrt! In einem kleinen Bushäuschen nahe einem Flughafen montierte ich also mein Paar Ersatz-Bremsklötze, das ich Aufgrund irgendeiner Eingebung noch gekauft hatte. Auf der Weiterfahrt betrachtete ich die zerklüftete norwegische Küstenlandschaft und fragte mich, wie weit ich wohl kommen würde, wenn es auf diese Art weiterginge. Als es zu dämmern begann, schlug ich mein Lager auf einem kleinen Schneefeld unweit eines Bauerhofes auf, gerade daneben floss ein kleiner Bach, an dem ich mir Wasser zum Kochen holte. Ich hatte einige Schwierigkeiten beim Aufstellen des Zeltes, da ich es versäumt hatte, spezielle Heringe für das Campen im Schnee zu kaufen, doch irgendwann konnte ich mich dann doch noch der Zubereitung meiner ersten Mahlzeit „im Freien“ widmen.
Der Vollständigkeit (und der Unterhaltung) halber möchte ich hier noch kurz die übrigen Missgeschicke aufzählen, die mir an diesem ersten Tag wiederfuhren: Meine billige Öllampe, die ich mir gekauft hatte, um Abends wenigstens etwas Licht zum Lesen und Notizen machen zu haben, gab nach etwa 10 Minuten den Geist auf. Ich schlug mir mein ohnehin schon sehr empfindliches rechtes Knie beim Wasserholen am Bach dermaßen hart an einem Fels an, dass ich mir ein Loch durch die lange Unterhose und die regenfeste Fahrradhose machte. Meine eigentlich wetterfeste und atmungsaktive Jacke hatte sich im Laufe des Tages mit Wasser vollgesogen und wog nun gut das doppelte, dazu waren die Innenärmel klatschnass, da das Material der Jacke die Feuchtigkeit irgendwie nicht nach außen durchließ. Und zuletzt brach bei meinem Vorderlicht ein Draht ab, glücklicherweise schien es des Massedraht zu sein, so dass ich das Licht auch weiterhin benutzen konnte. Alles in allem war es wohl einer der härtesten Tage, die ich jemals auf einer Tour erlebt habe. Ich schlief ein, ohne zu wissen, was die kommenden Tage für mich bereithalten würden. Ich erwachte bei bedecktem Himmel. Nachdem ich mir ein Frühstück gemacht und mich kurz mit dem freundlichen Bauern, der mit seinem Traktor vom Hof heruntergefahren war, um die Post aus dem Briefkasten zu holen, unterhalten hatte, fuhr ich weiter, auf einer Straße, die entlang der E6 verlief, die an diesem Abschnitt für Fahrräder nicht zugelassen ist. Es begann wieder zu regnen. Ich spielte mit dem Gedanken, mein Fahrrad in den Zug zu verladen und weiter nach Norden zu fahren, in der Hoffnung, dass es dort eher schneien als regnen würde. Doch ich wusste aus den Tageszeitungen, dass es zu diesem Zeitpunkt in fast ganz Norwegen nur ein Wetter gab: Regen.
Ich traute zuerst meinen Ohren nicht. Doch schließlich saß ich tatsächlich in dieser unglaublich gemütlichen kleinen Hütte, konnte meine nassen Sachen trocknen lassen und mir in aller Ruhe auf der kleinen Herdplatte ein Abendessen kochen. Das Wasser holte ich mir in einem kleinen Kanister aus dem Badezimmer des Hauptgebäudes. (Überhaupt habe ich diese kleinen „Hytten“ sehr zu schätzen gelernt. Niemand kann mir erzählen, dass ein Hotelzimmer für 900 Kronen so gemütlich ist wie diese schlichten, kleinen Häuschen mit nichts als einem Bett, einer Heizung und einer Kochplatte!) Und so, nach zwei Tagen Regen, Pech und Ungewissheit, saß ich jetzt also hier im Warmen und war der glücklichste Mensch Norwegens! Ich wusste nun auch, dass meine Tour ein Erfolg werden würde. Und am frühen Morgen stand ich, mit einer Tasse heißem Tee in der Hand, zum ersten Mal staunend vor der Pracht der winterlichen norwegischen Landschaft und schaute hinaus auf den Snasavatnet. Die freundlichen Leutchen des Motels, besonders die Dame, schienen sehr besorgt um mein Wohlergehen zu sein, und so bekam ich am nächsten Tag nicht nur ein paar Ansichtskarten des Motels und einen heißen Kaffee, sondern auch noch belegte Brote für unterwegs zugesteckt. Einfach unglaublich auch jetzt noch. Vielen Dank ihr lieben Leute vom Kwam-Motel, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ihr mir geholfen habt! Moralisch gestärkt fuhr ich weiter auf der E6, alles schien nun sehr einfach verglichen mit den ersten beiden Tagen. Ich erreichte Grong und fuhr nach einer kurzen Pause in der eher unspektakulären Ortschaft weiter, Richtung Norden und Mosjoen. Ich schlief neben einer Schule auf einem überdachten Tischtennistisch, weil ich keine Lust hatte, im Regen und der Dunkelheit mein Zelt aufzustellen.
Das Wetter änderte sich kaum, glücklicherweise regnete es nur zeitweise, und manchmal kam sogar die Sonne für ein paar Stunden durch. Die Straßen waren teilweise spiegelglatt und mehr als einmal konnte ich einen Sturz nur mit Mühe und Not verhindern. Dennoch verbrachte ich noch einen wundervollen Nachmittag und Abend an den Ufern des Store Mojavatnet, wo ich mein Lager aufgeschlagen hatte, obwohl mein Tagesziel noch nicht erreicht war. Doch die Aussicht über den gefrorenen See auf die einsamen verschneiten Berge, die hier und da von der durch die Wolken brechenden Sonne beschienen wurden, machte mir die Entscheidung leicht, anzuhalten und den Rest des Tages zu genießen. Am nächsten Tag erreichte ich, nachdem ich die Nordland-Pforte durchfahren hatte, über eine schwer zu befahrende E6 Mosjoen, wo ich mir und meiner klammen Ausrüstung wieder eine Nacht in einer warmen Hütte gönnte. In der Gegend um Mosjoen war es dann auch, dass ich zum ersten mal ziemlich verdutzt einer Journalistin gegenüberstand, die mich für die lokale Zeitung interviewen wollte. Das erste von insgesamt drei Zeitungsinterviews, das ich auf der Tour gab. Nachdem ich alle Fragen beantwortet und mich für ein paar Fotos vor mein Zelt gestellt hatte, verabschiedete ich mich von der Zeitungsdame und fuhr weiter Richtung Mo I Rana und dem Polarkreis entgegen. Über einen ziemlich heftigen Pass mit matschigem Schnee kam ich nach Korgen, wo ich morgens auf einer kleinen Insel in einem Gewässer zwei Adler davonfliegen sah, und erreichte am folgenden Tag Mo I Rana, die Stadt mit dem anscheinend größten Technologiepark Norwegens, wo ich in einem öffentlichen Schwimmbad eine Dusche nahm und zum ersten mal in meinem Leben in einer Sauna saß – eine geniale Erfindung in diesen Breitengraden.
Am nächsten Tag kletterte die Strasse über die Baumgrenze, es gab nichts mehr außer Schnee, Wind und Sonne. Vorbei an einem kleinen Häuschen, in dem man bei starkem Schneefall ausharren kann, bis das Räumungsfahrzeug die Straße wieder frei gemacht hat. Links und rechts ragten die zwölf bis fünfzehnhundert Meter hohen Berge in den blauen Himmel und gaben mir das Gefühl, auf dem Dach der Welt zu sein, so dass ich die 20 Kilometer bis zum Polarkreis wie in Trance zurücklegte, und dann sah ich, ein wenig versteckt abseits der Strasse, die kleinen Podeste mit dem eisernen Globus, die den Polarkreis markieren. Ich hatte es geschafft! An dem um diese Jahreszeit völlig verlassenen Polarkreiszentrum stapfte ich vorbei zu dem kleinen Steinpodest, den ich schon von vielen Abbildungen her kannte. Ich beschloss, die Nacht an diesem einzigartigen Ort zu verbringen, obwohl ich gerade 2 Stunden davor losgeradelt war. Als ich mir mein Abendessen zubereiten wollte, setzte auf einmal mein Benzinkocher aus. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, schliesslich war die nächste Ortschaft über zwanzig Kilometer entfernt. Doch ich sagte mir „ruhig Blut“ und schaffte es, die Benzinzufuhr des Kochers wieder in Ordnung zu bringen. In der Nacht, bei knackig frischer Kälte, kroch ich aus dem Zelt, schnappte mir noch schnell meine Thermosflasche, und dann stand ich da und betrachtete das seltsam gespenstische Leuchten am nördlichen Horizont und die langen Lichtspuren, die sich über den ganzen Himmel zogen. Ich sah zum ersten Mal das Nordlicht.

Kapitel 2
Sonnenschein und dunkle Tunnel


Kapitel 3
Glück gehabt

Doch es wurde dunkel und Nacht, bis ich mich abends gegen neun Uhr in einem Hotel in Storslett nach den Zimmerpreisen erkundigte, die, wie eigentlich immer in norwegischen Hotels, exorbitant waren. Die lokalen, kleineren Unterkünfte waren von Flüchtlingen aus aller Herren Länder belegt. So blieb mir nichts anderes übrig, als völlig übermüdet und etwas außerhalb der Ortschaft mein Zelt aufzuschlagen, schnell noch etwas zu kochen und dann tief in den Schlafsack zu kriechen. Am nächsten Tag startete ich den Versuch, einen Tag Pause im Freien zu verbringen. Der Wind, der von Süden her kam, war eisig kalt, und so fuhr ich, nachdem ich meine Ausrüstung im Zelt verstaut hatte, die kurze Strecke zurück nach Storslett, um dort ein paar Dinge zu kaufen und mich im Warmen aufzuhalten. In der öffentlichen Bibliothek unterhielt ich mich mit den Angestellten über meine Tour und erhielt wertvolle Tipps für die Übernachtungsmöglichkeiten auf den folgenden Kilometern. Abends kehrte ich zu meinem Zelt zurück, kochte mein Abendessen und legte mich schlafen. Doch es war zu kalt gewesen, um mich wirklich zu erholen, und das sollte ich am folgenden Tag zu spüren bekommen. Denn nachdem ich da entlang der Küste gefahren und die seltsam perfekten Formen, die die gesprungene Eisdecke auf dem Wasser des Fjordes geschaffen hatte, betrachtet hatte, fühlte ich mich auf einmal etwas kraftlos und schwindelig, als ich in einem kleinen Supermarkt in Sorstraumen einen kurzen Stop einlegte und eingeladen wurde, gratis Kaffe zu trinken und Plätzchen zu essen.

Kapitel 4
Von Lappen und Hammerfesten

Seltsamerweise wusste keiner der Leute, die ich darauf nach den Hundeschlitterennen befragte, darüber bescheid, und überhaupt schien mir meine Tour auch nicht weniger spannend zu sein, und so begann ich eine Tagesetappe, die auf meiner Karte recht seltsam aussah. Denn die Strecke von rund 90 Kilometer legte auf der Karte eine erstaunliche Distanz zurück, während ich bisher die meisten Kilometer mit Kurven und Steigungen zugebracht hatte. So oder so, dachte ich mir, wird es ein interessanter Tag. In ein paar fiesen Steigungen voll Eis und Schnee, die mich über die achterbahnartige Straßenführung fluchen ließen, erreichte ich wieder eine Art Hochebene, die mich sehr an diejenige am Polarkreis erinnerte. Den ganzen Vormittag war ich an sonntäglichen Ausflüglern aus Alta vorbeigekommen, die mit Skiern oder Schneemobilen in der hügeligen Landschaft verschwanden. Echt beneidenswert diese Leute, mit einer solchen Natur direkt vor der Haustür. Dann hatte ich die baumlose Zone bei etwa 400 m.ü.M. erreicht, und die Magie begann. Ich ließ mein Fahrrad am Straßenrand und stapfte durch den Schnee einen nahen Hügel hinauf, und dort oben eröffnete sich mir ein Weitblick über nichts als strahlend weiße Berge, und zwischen den schnell vorbeiziehenden Wolken der blaue Himmel. Ich setzte mich hin, mit dem Rücken zum Wind, und war am Ziel aller meiner Wünsche – ich war im Schnee. Schnee soweit das Auge reicht! Einzig die E6, die sich schnurgerade durch die Landschaft zog, erinnerte mich ein wenig daran, wo ich herkam. Ich war gottefroh, diese Gegend mit meinem Fahrrad, und nicht etwa mit dem Auto, zu durchfahren. Ich pfiff und winkte einem entfernten Langläufer zu, und er winkte zurück, ganz so, als ob wir alte Kumpel seien. Und tatsächlich sind alle Menschen, die sich zu dieser Landschaft hingezogen fühlen, irgendwie Kumpel.
Und so fuhr ich immer weiter, bis ich in Skaidi eintraf, dem eigentlichen Ziel des heutigen Tages. Doch außer einem kleinen Supermarkt und einer Tankstelle, in der mich die Kassiererinnen mal wieder unsicher beäugten, so als wäre ich aus den Wäldern herabgestiegen, um hier zu plündern und zu brandschatzen, gab es nicht viel zu sehen, geschweige denn einen Ort zum Übernachten. Außerdem war es die Stelle, wo ich mich von der E6 verabschieden musste. Ich sagte Auf Wiedersehen zu dieser Straße, die sich alles in allem sehr gnädig mir gegenüber gezeigt hatte, und begrüßte die 94, meine Begleiterin für die letzten Kilometer bis Hammerfest. Ich fuhr auf der holprigen Straße los, immer nach einem Lagerplatz äugend. Doch an allen Stellen, die in Frage kamen, standen schon Häuser, und so kam ich an den Repparfjorden und musste Abschied nehmen von der Idee, am Flussufer zu zelten. Es wurde dunkel, und der Wind, der vom Fjord her über die Straße pfiff, war eigentlich zu stark zum weiterfahren. Wie sollte ich bei einer solchen Windstärke mein Zelt aufbauen? Verließ mich mein Glück hier, nach einem wundervollen Tag? Ich radelte fluchend über eine Brücke, die Kapuze meiner Jacke tief ins Gesicht gezogen. Auf einmal bemerkte ich einen kleinen Jungen, der am Brückengeländer lehnte und mich frech angrinste. Ich kam mir etwas dumm vor, weil ich so laut vor mich hin geschimpft und geflucht hatte, doch ich war auch froh, in dieser schneeverwehten und dunkler werdenden Landschaft überhaupt ein menschliches Wesen zu sehen.
Es war, um ehrlich zu sein, kein besonders berauschendes Gefühl, bei diesem Wetter in die nördlichste Stadt der Welt einzufahren. Ich machte mich auch gleich auf die Suche nach einer Unterkunft. Doch zu meiner Überraschung waren alle preiswerten Unterkünfte geschlossen, eine Jugendherberge gab es nicht, und da die Touristeninformation geschlossen war, musste ich eine Menge rumtelefonieren und rumfahren. Ich erkundigte mich an einer Tankstelle nach Übernachtungsmöglichkeiten, und man verwies mich an einen gewissen Knut Hogen, der im Autohaus nebenan arbeite und Zimmer hätte. Ich kam zu Mister Hogen, einem mittelgroßen glatzköpfigen Typ, der mich etwas an die Macker auf dem Hamburger Kiez erinnerte. Nein, sagte er nach scheinbar kurzem Überlegen, er habe keine Zimmer. Es kam mir etwas seltsam vor, und außerdem mag ich kein „Nein“, und so verabschiedete ich mich kurzangebunden. Ich musste also weitersuchen. Nach noch mehr kostspieligen Telefonaten stand ich schliesslich in einer von Türken geführten Pizzeria und erkundigte mich nach einem Herrn Blix. Sie deuteten mit dem Arm in eine Ecke der Gaststätte, und wer saß da? Der Glatzkopf. Anscheinend war er wirklich nicht besonders daran interessiert, Zimmer in seinem Arbeiterheim zu vermieten. Erst nach längerer Diskussion konnte ich ein ziemlich mittelmäßiges, kaltes Zimmer ohne richtige Kochgelegenheit für nur eine Nacht klarmachen, zu einem nicht unbedingt niedrigen Preis, doch es war das einzige, was in Hammerfest zu haben war. Das Ganze stand im krassen Gegensatz zu der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Norweger, die ich bisher an der Strecke getroffen hatte.

Kapitel 5
Rückkehr in die Fremde

Und es war Gastfreundschaft, wie ich sie selten erlebt habe und wie man sie wohl nur bei Menschen erlebt, die selbst nicht allzu viel haben. In ihrer kleinen aber sauberen Bude, die normalerweise an Studenten vermietet wurde, bekam ich erst mal den besten Platz vor dem Fernseher zugewiesen – wohl so eine Art Statussymbol der Sessel, in den zu setzen sie mich einluden. Sie nahmen währenddessen auf einfachen Küchenstühlen Platz. Wir unterhielten uns auf Englisch über dies und das, die Taliban und was sie getan hatten, und dass der älteste von ihnen, ein untersetzter, sehr freundlicher Afghane so um die 50, einmal General unter Doktor Soundso gewesen war, bis die Regierung von eben diesen Taliban gestürzt worden war. Nun war er hier in Norwegen, als Flüchtling, als Niemand. Durch die Einfachheit und Offenheit, mit der sie diese Dinge erzählten, schenkte ich ihren Aussagen einigen Glauben. Die Tatsache, dass mir der Name Massoud ein Begriff war, schien meinen Respekt bei ihnen zu heben. Einer der fünf, ein Bursche namens Sha, hatte ein stark asiatisches Aussehen – seine Eltern waren einst aus China eingewandert. Ich fragte mich, wie viele Chinesen es in Afghanistan gebe, worauf sie meinten „Too many!“. Später erkundigte ich mich nach der Zahl der Afghanen, die in Hamburg leben, und ihre Antwort: „Too many!“. Mit Sha also, einem ziemlich sportlichen Typ, der aufgrund seines Alters (oder seiner Herkunft?) dauernd zum Geschirrspülen und Tischdecken abkommandiert wurde, verstand ich mich besonders gut, nachdem ich ihm von meiner Lieblingssportart, dem Boxen, erzählt hatte. Soweit ich das mitgekriegt habe, sind ziemlich viele Afghanen Boxsport-verrückt – eine weitere Sache, die ich sehr symphatisch finde.