Der Nationalpark Los Glaciares

Wie von Mariano beschrieben stürtzte der Rio Perro jenseits des Südufers des Lago Tannhäuser die Felsen hinunter. Ich folgte dem Fluss zunächst nicht, sondern kürzte den Weg über die Geröllfelder daneben ab. Bald war ich wieder unterhalb der Vegetationsgrenze, und zwei Spezies von kleinen roten Beeren, von denen ich wusste, dass sie essbar waren, wuchsen in Massen zwischen den Steinen. Ich liess mich einfach auf die Knie nieder und ass die süss schmeckenden Gewächse direkt von der Wiese, wie damals am Lago Kami, als ich den Löwenzahn probiert hatte.
Unterhalb der Baumgrenze sah ich die ersten roten Blätter des nahenden Herbstes. Ich hatte dabei das Gefühl, in meiner Reise schneller vorankommen zu müssen – seit Monaten marschierte ich jetzt schon, doch noch nichtmal die Hälfte war geschafft. Hatte ich mich in Deutschland nicht gefragt, was ich nach den drei Monaten, die ich für Patagonien eingeplant hatte, anfangen würde? Ich hatte eine Menge Umwege und zick-zack mässige Routen gewählt, weil die Orte, die mich interessierten, nicht immer wie aufgereiht in einer Reihe lagen. Dennoch merkte ich, wie mich der Alltag, die ewig gleichen Rituale bei der Ankunft auf einer Estancia, die immergleiche Vegetation und kaum erkennbare Tierwelt etwas weniger zu interessieren begannen als noch am Anfang der Reise. Ich musste mich ranhalten und vorwärtskommen.
Beim Weg hinab ins Tal sah ich durch die Bäume zum ersten Mal die Estancia Christina. Irgendein Wagehals hatte vor über hundert Jahren hier eine Viehzucht aufgezogen und war damit reich geworden. Als der Nationalpark geschaffen wurde, kam auch der Alltag auf der Estancia zum erliegen, bis dann ein anderer cleverer Mensch vor wenigen Jahren die Gebäude zu einer Hosteria umgebaut hatte, zu der jetzt die Touristen aus El Calafate geschifft wurden. Ausserdem war es ein wichtiger Anlauf- und Endpunkt für viele Expeditionen, die hier nach Wochen im Eis zum ersten Mal wieder in Kontakt mit der Zivilisation kamen. Und ich kann mir vorstellen, dass kein Einziger von ihnen mit einem schlechten Gefühl von dieser Estancica wegging – doch durch die direkte Verbindung zu El Calafate hatte ich zunächst keine grossen Erwartungen an die Gastfreundlichkeit oder Hilfsbereitschaft der Leute auf der Estancia gehabt. In El Calafate hatte ich der hauseigenen Agentur ein paar Fragen gestellt: „Kann ich bei der Estancia Christina Lebensmittel besorgen?“ „Nein.“ „Kann ich dort zelten?“ „Es gibt eine Hosteria mit Zimmern. Aber keinen Zeltplatz.“ Hosterias waren mit das teuerste, was es an Unterkünften gab, und waren für mich nie in Frage gekommen.
Als ich mich den Gebäuden näherte, kam mir eine junge Frau aus dem Hauptgebäude entgegen. Ich erklärte, woher ich kam und das ich hier ein paar Lebensmittel kaufen wollte. Sie werde fragen, ob das möglich sei, doch zunächst solle ich doch eintreten und einen Kaffee oder Tee trinken. Nun gut, dachte ich mir, wenn das dann der Preis ist, den ich zahlen muss, so soll es eben so sein. Ich brauchte die Lebensmittel nunmal, um durch das Tal beim Cerro Norte marschieren zu können. Ich betrat das stilvoll und gediegen eingerichtete Restaurant.