Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 7
Am Lago Viedma

Es gab keine geeigneten Orte zum Zelten außer nahe am Ufer, wo sich zwischen den Büschen etwas Schutz vor dem Wind bot. Das einzige Wasser war das des Sees, milchig und voller Sedimente. Nachdem ich das südliche Ufer mühevoll hinter mich gebracht hatte, musste ich viele Kilometer auf der asphaltierten Ruta 40 zurücklegen, bevor ich wieder nach Westen einbog auf die Straße, die nach El Chalten führt, der selbsternannten Trekking-Hauptstadt. Mein Ziel war das kontinentale Eisfeld. Schon in Deutschland war klar gewesen, dass es einer der Höhepunkte meiner Patagonien-Durchquerung werden sollte. Ich wollte einige Nächte auf der weiten, schneebedeckten Ebene verbringen, hatte jedoch kaum weitere Informationen dazu. Ich passierte einen „Gauchito“, eine Art Gedenkstätte für den Volksheiligen Gauchito Chil, einen Argentinier des 19. Jahrhunderts. Wenige Kilometer später sah ich jemanden im Staub neben der Straße sitzen. Es war Xavier aus Belgien. Er pflegte am Straßenrand zu pausieren, auf seiner mit Flicken versehenen Therm-a-rest ruhend, neben sich die Thermosflasche mit dem Wasser für den Mate. Wie ein richtiger Argentinier war er versessen auf das Getränk, zudem hatte er in seiner Radtasche immer einen großen Topf voller Dulce de Leche dabei, einem melasseartigen Brotaufstrich. Xavier war sehr sparsam unterwegs, vielleicht sogar extrem sparsam. „Schau her“, sagte er und zeigte mir ein kleines Stück Seife, „seit einem Monat wasche ich mich damit, und meine Wäsche!“. Abends hatte er kein Zelt zur Verfügung, daher drehte er einfach sein Fahrrad auf den Kopf und spannte einen Militärponcho darüber, das bot ihm in seinem Schlafsack genügend Schutz, zumal es in der Gegend eher selten regnete. Diese Bekanntschaft war eine willkommene Abwechslung nach den öden Stunden und Tagen entlang des Seeufers, und wir gingen eine Weile gemeinsam auf der Straße. Er hatte eine Angelrolle in einer seiner Taschen und suchte nach einer Angelrute, um fischen zu können. Er war begeistert, als ich ihm die Angeldose aus Feuerland zeigte und gleich am Rand der Straße ihre Verwendung erklärte, wobei wir annahmen, der Asphalt sei ein Fluss. Schließlich fuhr…
El Chalten war auf Touristen eingestellt. Überall boten „Guias“, Führer mit Ortskenntnis, einen Ausflug auf das Eisfeld an. Der Preis betrug viele hundert Dollar für eine dreitägige Exkursion. Ich war mir nicht im Klaren darüber gewesen, wie schwierig der Aufstieg und wie riskant der Marsch auf dem Schneefeld war, wenn man weder Ortskenntnis noch die entprechende Spezialausrüstung hatte. Auf dem freien Campingplatz am Ende der Ortschaft schwitzte ich meine Erkältung aus und versuchte, mir einen Plan zu überlegen. Xavier war ebenfalls angekommen, gut gelaunt flirtete er mit allem, was zwei Beine und Brüste hatte. Ich fühlte mich zunehmend niedergeschlagen. In einem Sportgeschäft lief ich einem etwa dreißigjährigen Argentinier über den Weg, der einem kürzlichen Bekannten verblüffend ähnlich sah. Er grinste breit, als ich ihn unvermittelt fragte, ob er einen Bruder namens Mariano hatte. Er war der Besitzer des Ladens und freute sich, von ihm zu hören. Wie nicht wenige der hiesigen Argentinier schien er eine gewisse Antipathie für die ausländischen Besucher zu haben, die er nur schwer verbergen konnte. Diese brachten Geld und ermöglichten somit ein gutes Auskommen in dem krisengebeutelten Land. Doch für die Menschen blieben sie Gringos. Vielleicht kollidierte auch das Auftreten mancher westlicher Touristengruppen mit dem südamerikanischen Stolz. Mein Marsch entlang des Cerro Norte imponierte ihm, und er war mir gegenüber sehr freundlich. Mein Vorhaben, auf dem Eisfeld zu übernachten, erhielt den Todesstoß, als ich erfuhr, dass die Jahreszeit bereits zu weit fortgeschritten war. Gegen Ende des Frühlings taute der Schnee, und übrig blieb eine wenig anschauliche, graue oder braune Ebene aus Matsch und Geröll. Ich hatte diesem Erlebnis ein halbes Jahr entgegengefiebert, und es war ein harter Schlag. Ich hatte in Feuerland und Patagonien Tage und Wochen für weite Umwege verwendet, und dabei die meisten wirklich interessanten Orte entdeckt. Mein Pech mit dem Eisfeld warf daher ein seltsames Licht auf die Zukunft, auf meinen Weitermarsch. Ich begann bereits in El Chalten, langsam Abschied zu nehmen von Patagonien. Meine eigene Sturheit befahl mir aber, den Aufstieg zum…
Nur widerwillig ließen sie mich gehen. Im Ausrüstungsladen erklärte man mir notdürftig die Verwendung des Steiggurtes, der bei der Überquerung einer Schlucht benötigt wurde. Ich wählte den Weg am Paso del Viento, einen Tagesmarsch von El Chalten entfernt. Dort angekommen, baute ich mein Zelt in dem Basislager auf und begann, nach dem Ort zu suchen, wo das Drahtseil über die Schlucht führte. In der Nacht zuvor war eine Anzahl von jungen Männern aus der Gegend angekommen. Sie hatten damit begonnen, Vorräte für eine amerikanische Wandergruppe hinaufzutragen, welche am kommenden Tag – ohne lästiges Gewicht auf den Schultern – in der Gegend wandern wollte. „Por los Gringos“, sagte einer von ihnen – sie waren in ihrem Stolz verletzt. Ich bekam von ihnen einen Gaskocher ausgeliehen, da mein Benzinkocher den Geist aufgegeben hatte. Am kommenden Morgen kletterte ich in den Felsen herum, ohne den richtigen Weg zu finden. Ein aufgepeitschter Bach schoß unter mir dahin, und ich wagte mich auf dem rutschigen Fels auf winzigen Vorsprüngen weit hinaus und wäre bei einem Ausrutscher mitten im Wasser gelandet. Ich fand den Übergang nie. Irgendwann erkannte auch mein Dickschädel, dass es kein Weiterkommen gab. Ich hätte nicht nur den Ort, sondern auch die Ausrüstung besser kennen müssen. Ich gab es auf und ging zurück zum Lager. Ich ließ das Eisfeld und den Wunsch, es zu sehen, hinter mir, schulterte meinen Rucksack und stieg hinab durch den Sprühregen nach El Chalten. Ganz leicht schritt ich dahin. Ich war gescheitert, doch fühlte ich mich gleichzeitig befreit von einer Last. Es war gut, El Chalten zu verlassen. Xavier war schon ein paar Tage vorher Richtung Norden weitergefahren, mein eigener Weg führte mich zunächst zurück auf die Ruta 23 und dann noch Nordosten, über die Berge an den Lago San Martin. In diesen Bergen war in den höheren Lagen praktisch keine Vegetation, und kaum Plätze zum Lagern. Ich musste mit meinen Füßen in einem Geröllfeld eine kleine Fläche austreten, um dort die Nacht zu verbringen. Den Flusstälern folgend…
Die erste Nacht auf dem Weg zur Hochebene verbrachte ich in einem verlassenen Puesto. Kleine Mäuse ließen mich nicht schlafen und erreichten auch die unmöglichsten Stellen, wo ich meine Ausrüstung aufgehängt hatte. Aus Wut sprang ich auf und versetzte einer der Mäuse einen kleinen Schlag – mit einem Quietschen warf sie sich auf den Rücken, zuckte ein letztes Mal und hauchte ihr Mäuseleben aus. Ich hatte eine Maus getötet, mein Karma war beschädigt. Ich entsorgte sie vor der Haustür. Tags darauf wanderte ich über die weiten, von Wind und Erosion ausgeschliffenen Bergrücken. Erst am Abend des darauffolgenden Tages war ich auf der Höhe des Gebirges angekommen. Zwei Wege gab es, nach Nordwesten auf einer Piste hinab zur Estancia Rio Narvarez, nach Osten ging es hinein in das Schneegestöber der Meseta de la Muerte. Ich war mir unsicher, der lange Aufstieg hatte mir die Lust auf weitere Abenteuer etwas genommen. Wie um mir bei der Entscheidung zu helfen, ergriff eine Fallbö die orangene Regenhülle meines Rucksackes und trug sie in Richtung der Hochebene davon. Ich brauchte diesen Regenschutz in einer Gegend mit nächtlichen Temperaturen unterhalb des Nullpunktes. Ich rannte hinterher, er flog einen Abhang hinab. Unten blieb er liegen, ein orangener Fleck in der düsteren Umgebung, ein Stück Plastik und doch so wertvoll. Ich nahm das Ereignis als Zeichen, überwand mich und begann den Marsch nach Nordosten. Da es bereits später Abend geworden war, brauchte ich einen Platz, wo ich mein Lager aufschlagen konnte. Es blies ein steter Westwind mit großer Stärke, um mich herum waren nur flache Hügel. Der Boden war ein ungewöhnlicher Steinsumpf: eine Schicht von ockerfarbenem Geröll und darunter ein mit Wasser vollgesogener, lehmiger Untergrund. Bei jedem Schritt versank man bis zum Knöchel in den nachgiebigen Steinmassen, und es war unmöglich, auf einer solchen Erde zu lagern. Schließlich, etwa eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, fand ich ein kleines, festes Stück Boden, das dem Wind jedoch vollkommen ausgesetzt war. Ich verankerte das Zelt mit schweren Steinen am Boden,…
Ich benötigte meinen Kompass und meine topographischen Karten mehr denn je, um tagsüber meinen Weg durch die Hochebene zu finden. Niedrige Wolken zogen dicht über meinem Kopf dahin, hin und wieder die Sicht auf steinige Hügel und karge Felsen, soweit das Auge reichte. Keine einzige noch so kleine Pflanze, der Boden war von Rinnsalen durchzogen. Es war wie in einer anderen Welt mit eigenen Gesetzen. Ich lernte, wie wichtig es ist, einem eingeschlagenen Kurs zu folgen. Ich umging Hindernisse, anstatt genau entlang der Kompassnadel zu marschieren. Stunde um Stunde kam ich dadurch mehr vom Kurs ab. Auf einmal stand ich unmittelbar vor einem steilen Abhang, vor mir nichts als windzerzauste und karge Steinwüste. Unten angekommen, machte ich eine kleine Rast und überlegte. Ich hätte längst die Ausläufer der Meseta erreichen müssen. Beim Nachdenken über meine Marschrichtung und beim Vergleichen mit der Karte fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag nach Nordosten anstatt nach Norden gegangen war. Hügel um Hügel hatte ich bequem umgangen, bis die kleinen Fehler und Bequemlichkeiten zu einem einzigen großen Irrtum geworden waren. Es war später Nachmittag und ich musste dringend einen Ort für die Nacht finden. Ich stand auf sumpfigem Boden inmitten einer weiten Ebene ohne Schutz vor dem Wind, schwarze Wolken kündigten stürmisches Wetter an. In einer halben Stunde würde es dunkel sein. In der Ferne konnte ich einen kegelförmigen Hügel sehen, den ich unter normalen Umständen nie als Lagerplatz in Betracht gezogen hätte. Dazu waren seine Hänge zu steil, und er bot keinen Schutz vor dem anrückenden Sturm. Aus Mangel an anderen Möglichkeiten entschloss ich mich, dort zu übernachten. Er bestand aus schwarzem Gestein, das von losem Geröll und Sand bedeckt war. Diese Schicht war jedoch nicht tief genug, um den Heringen einen festen Halt zu geben. Ich suchte mehrere schwere Steine zusammen und befestigte damit mein Zelt, so gut es ging. Die waagrechte Plattform, die ich in den Hang getrampelt hatte, war gerade groß genug. Sie lag auf der Seite, die dem…