Das Ziel vor Augen

Wie ich meinen Weg am nächsten Tag fortsetzte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an Baufahrzeuge, Staub, endloses Dahingehen. Schnurgerade zieht sich die Straße durch die wüstenartige Landschaft. Vielleicht bin ich sogar ein Stück per Anhalter gefahren. Meine Erinnerungen setzen erst wieder in Bajo Caracoles ein, einem kleinen Nest in der Pampa, nicht mehr als ein paar Häuser an der Kreuzung der Nationalstraßen 40 und 39. Alles war geschlossen, ich benötigte jedoch Bargeld, da ich seit Wochen keinen Bankautomaten mehr gesehen hatte. Die Ruta 39 kam von Nordosten und führte nach Westen an den Lago Posadas. Dazwischen lagen 70 Kilometer menschenleere, wasserlose, windgepeitschte Pampa. Da ich dabei keinen einzigen Meter weiter nach Norden kam, entschloss ich mich, die Strecke per Anhalter zurückzulegen. Es war kaum Verkehr auf der Straße, daher machte ich mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Doch der erste Geländewagen, der kurze Zeit später vorbeikam, hielt an und nahm mich mit nach Ipolito Yrigoyen, ehemals Lago Posadas. Es war eine kleine, am Reißbrett entworfene Ortschaft unweit des Sees. Pappelalleen, menschenleere Straßen, hier und da trollte sich ein Hund. Die zwei Ingenieure, in deren Auto ich mitgefahren war, hatten mir von einem seltsamen Deutschen erzählt, der eine Estancia am Ortsausgang bewohnte. Offenbar hatte diese Person Schwierigkeiten familiärer oder persönlicher Art, das Grundstück soll von seinem Vater erworben worden sein. Ich hatte noch genügend Vorräte in meinem Rucksack, um den Lago Buenos Aires erreichen zu können, ein Marsch von etwa fünf Tagen. Ohne Zeit zu verlieren ging ich auf der Ruta 39 aus dem Ort hinaus, Richtung See. Unterwegs wurde ich von einer Polizeistreife in Zivil aufgefordert, meine Papiere zu zeigen. Meine zerrissenen Hosen mögen nicht den besten Eindruck hinterlassen haben. Ich bat sie, mir zuerst ihre eigenen Polizeiausweise zu zeigen, denn die Nachrichten aus dem Nachbarland Bolivien hatten mich vorsichtig gemacht. Dort verschwanden hin und wieder ausländische Besucher, entführt von Beamten mit gefälschten Ausweisen. Die Bankkonten der Opfer wurden geplündert, von ihnen selber sah man nie mehr etwas.
Ich erreichte ein verwahrlostes Grundstück, dessen Eingangspforte von Altpapier übersäht war, manches davon waren Einladungen zu einer Künstler-Soirée oder etwas ähnlichem, dazwischen Illustrierte, Tageszeitungen, Bücher, einige auf deutsch. Hier musste der verwirrte Sohn leben. Trotz den seltsamen Geschichten war ich neugierig, dem Menschen zu begegnen, doch niemand war zu sehen oder zu hören. In einem halb verfallenen Gemäuer stand ein einzelner Tisch mit Besteck und Teller, darauf ein alter Brotlaib. Es schien, als hätte sich jemand vor Wochen den Tisch zum Mittagessen gedeckt, nur um dann zu merken, dass er doch nicht unter freiem Himmel essen mochte. Ich wartete ein wenig, ein Hund lief auf dem Grundstück herum, sonst regte sich nichts. In diesen Gegenden konnte es Tage dauern, bis jemand nach Hause zurückkehrte. Seit El Chalten trug ich ein leichtes Ressentiment mit mir herum, nun fühlte ich mich erneut um eine interessante oder seltsame Begegnung gebracht. Es wurde Zeit für mich, diesen Marsch zu beenden. Ich wandte mich damit dem letzten Abschnitt meiner monatelangen Wanderung zu.