Drawing the Tiger
Dieser Dokumentarfilm von Amy Benson und Scott Squire ist ein Fußtritt in die Eingeweide. Die Geschichte, die sie erzählen, scheine ich ihn ähnlichen Formen bereits in anderen Filmen gesehen zu haben. Die spielen zwar in anderen Weltgegenden, aber der Ablauf kommt mir bekannt vor. Es ist die Geschichte von Menschen der unteren Einkommenschicht, die einen Weg aus ihrer Armut suchen, sich aber mit folgenschweren Entscheidungen selber im Wege stehen.
Eine arme Familie in den Bergen Nepals. Die Mutter: hart arbeitend, Ziegen melkend, Fladenbrot backend, Kinder hütend. Der Vater: Typ Gigolo, ständig am Pendeln zwischen den Haushalten seiner beiden Ehefrauen, die in Rufweite voneinander leben. Der Sohn ein solider, aber etwas passiver Kunsthandwerker in der Großstadt. Die Tochter: der hellste Kopf des Dorfes und die Hoffnung der gesamten Familie auf ein besseres Leben ohne Hunger und tägliche Existenznot.
Eine amerikanische Hilfsorganisation ermöglicht es Shanta, der klugen und hübschen Tochter, eine Privatschule in Katmandu zu besuchen. Mit großem Elan beginnt sie ihr Studium und teilt sich eine enge Stadtwohnung mit ihrem Bruder, dessen Ehefrau und dem kleinen Kind. Mit gerade einmal sechzehn Jahren trägt sie nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern auch die Erwartungen eines ganzen Dorfes auf ihren schmalen Schultern. Die Filmemacher, die die Familie in dieser Zeit besuchen und das Leben von Shanta dokumentieren, erleben ein zunehmend melancholisches Mädchen.
Eine krasse, verzweifelte Entscheidung der jungen Tochter lässt die nepalesische Familie moralisch zerstört zurück, ohne dass sie es sich leisten könnten, im täglichen Überlebenskampf auch nur kurz nachzugeben.
Beobachtungen aus dem Alltag der nepalesischen Bergbauern: alle sind verschuldet und überleben, indem sie weitere Schulden machen, mit denen sie die Kredite abzahlen. Die Familienmitglieder geben sich auch untereinander Darlehen, die sie verzinsen.
Das dichte soziale Gefüge des Dorfes auf der einen, die menschliche Gleichgültigkeit oder fast Kälte auf der anderen Seite, wenn der Dorfchef sich mit den Worten an Shanta erinnert: „…sie war unsere beste Investition.“ Eine Nichte ruft ihren Onkel an und bittet ihn vorbeizukommen, weil sie „sein Gesicht sehen möchte.“ Am Ende geht es um das Darlehen, das er nicht zurückzahlt. Können sich Menschen Empathie nur leisten, wenn sie am Ende des Tages genügend Essen auf dem Teller haben? Oder ist ihr gleichgültiger Umgang die Ursache für die Tragödie?
Der Film wirkt wie ein nepalesisches Spiegelbild zu dem chinesischen Dokumentarfilm Gui tu lie che (Last Train Home) von Lixin Fan. Eine andere arme Familie in einem anderen Kulturkreis, ein ähnliches Schicksal. In beiden Fällen erhält man das Gefühl, dass die Menschen mit ihren Fehlentscheidungen das Armutsgefüge weiter zementieren, und gleichzeitig keine andere Wahl haben, als manche Entscheidungen zu treffen. Am Ende bleibt die Hoffnung der vielen Kinder: „Wenn es eines nicht schafft, schafft es vielleicht das nächste.“