‚Full Metal Jacket‘ – Wahnsinn in zwei Teilen
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass ein wirklich gutes Buch immer auf zwei Ebenen funktioniert: als unterhaltsame Lektüre und als tiefgründige Nahrung für unsere Gedanken und unsere Vorstellungskraft. Ähnlich geht es mir mit dem ersten Teil dieses Films.
Wie es ehemalige Absolventen berichten, welche die Hölle von Parris Island durchgemacht haben, sind die Vorgänge ganz so dargestellt, wie sie es selber erlebt haben. Gleichzeitig dringt die Absurdität, Menschen zu Tötungsmaschinen abzurichten, auf subtile Weise immer wieder durch und unterläuft das heroische Pathos, auf das sich andere Filme an dieser Stelle vielleicht verlassen würden. Kubrick schafft den Spagat, nicht nur ein unterhaltsames und wirklichkeitgetreues Abbild zu erzeugen, sondern dieses Abbild auch noch mit einer sehr eigenen, gedankenvollen und fast subversiven Aussage zu spiegeln. Dieser erste Abschnitt des Film wird mehr oder weniger von dem völlig von der Leine gelassenen Ausbilder, dem Drill Sergeant Hartman (R. Lee Ermey) getragen. Die Kamera scheint seine obsessiven Gesichtszüge und seine kreative Fäkalsprache zu vergöttern.
Dieses Gefühl von absoluter Sicherheit hinsichtlich der Gestaltung geht im zweiten Teil etwas verloren: die Dialoge wirken oft aufgesagt, den Schauspielern scheint es hier und da an intuitiven Regieanweisungen zu fehlen. Bei genauerem Hinschauen könnte man dies auch im ersten Teil des Film feststellen – doch dort wird alles vom Drill Sergeant überstrahlt und in den Schatten gestellt. Zurück zu Vietnam. Trotz der wie zusammengesetzt wirkenden Sequenzen (einmal sprechen die Soldaten direkt in die Kamera) entsteht aus meiner Sicht kein überflüssiges Gerede, die allermeisten Dialoge erhöhen entweder die Stimmung, untermauern oder untergraben einen Ausdruck oder tauchen das Geschehen in ein völlig surreales Licht. Dass die Handlung in den Londoner Docks und nicht an Originalschauplätzen in Südostasien gedreht wurde, machte für mich immer einen Teil der Bewunderung aus, die ich für den Film habe. Die Atmosphäre bleibt dicht, auch nach mehrmaligem Anschauen, und die brennenden Gebäude funktionieren für mich genauso gut als „Platzhalter“ für die Verwüstungen der modernen Kriegsführung wie als glaubwürdige Requisiten.
Ich hatte immer den Eindruck, dass sich Kubrick an den abgeschlossenen Drehorten der ersten Hälfte, wo alles auf einen engen Raum begrenzt war und wo er Bildkomposition usw. ohne größere Probleme kontrollieren konnte, ganz in seinem Element fühlte. Die Kamera klebt dort förmlich an der Figur des Drill Sergeant, denn er ist das Vehikel, über das Kubrick das meiste zum Ausdruck bringt. Die deutlich komplexeren Schausplätze in Vietnam wirken wie aneinandergefügt, und bleiben für mich dennoch stimmig. Kubrick konnte als Filmemacher offenbar auch in Situationen, über die er möglicherweise nicht genug wusste, glaubwürdige und einprägsame Szenen erstellen.
Es ist schwierig, den Film über den Klee zu loben, wenn man im Hinterkopf immer den Verdacht hat, dass der Regisseur selber nicht genau wusste, wohin er sich damit eigentlich bewegen wollte. Was am meisten zum Ausdruck kommt, und darin erinnert der Film an Dr. Strangelove, ist die Absurdität des ganzen Unterfangens „Krieg“. Aus dieser Perspektive ist der Film gelungen, selbst wenn er wirkt, als wären verschiedene Teile mit unterschiedlichem Rhythmus und abweichender Perspektive aneinandergetackert worden.