Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 1
Am Archipelago

Meiner Ankunft in der für patagonische Verhältnisse doch recht grossen Stadt Punta Arenas hatte ich mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Schliesslich war ich wochenlang durch fast menschenleere Natur marschiert, und ich erwartete eine Menge Dreck und Chaos und Hektik bei meiner Ankunft auf dem Festland. So war es dann eigentlich auch, doch da ich damit gerechnet hatte, war es zu ertragen. Ich mietete mich mehrere Tage in einer recht günstigen Pension ein, um ein wenig Arbeit für die Webseite in Deutschland nachzuholen. Doch leider erfuhr ich, dass ich den Job los war – zu lange hatte ich mich nicht gemeldet, nicht melden können. Der Weitermarsch nach Norden war dann auch eher ernüchternd: stundenlang passierte ich Industrieanlagen und kleine Siedlungen, neben mir auf der Ruta 9 fuhren den ganzen Tag Lastwagen. Patagonien schien geizig mit seinen Reizen umzugehen. Am zweiten Tag begegnete ich dem ersten deutschen Radfahrer. Falko war unterwegs nach Lima in Peru, mit einem sechs Jahre alten Fahrrad, das wohl seine besten Tage bereits hinter sich hatte. Wir unterhielten uns abends am Lagerfeuer über unsere Reisepläne. Falko sprach dauernd von den Hochanden. Dass er noch ein paar tausend Kilometer windgepeitschtes Flachland zu bewältigen hatte, schien er nicht ganz zu realisieren. Meine Vorräte wollte ich in Villa Tehuelches, einem kleinen Pueblo zwischen Punta Arenas und Puerto Natales, ergänzen. Zu kaufen gab es in dem zweihundert-Seelen Ort dann zwar fast nichts, dafür eine winzig kleine Bibliothek mit gratis Internetzugang – und zwar über Satellit. Ich beschloss, ein paar Tage dort zu bleiben und eine Webseite über meine Reise zu erstellen. Ich lagerte hinter der Media Luna, dem halbmondförmigen kleinen Holzstadion, in dem jedes Jahr das Festival de la Esquilla abgehalten wird, und zu dem ich Wochen darauf mit einem recht seltsamen Fahrrad zurückkommen sollte – doch davon später mehr. Nach fünf Tagen war die Seite so weit fertig, dass ich sie erstmals ins Internet stellen konnte. Es war Weihnachten, und der ganze Ort schwitzte in der drückenden Hitze der sommerlichen Pampa. Und…
Der schwere Rucksack, bepackt mit Lebensmitteln für zwei Wochen, hing schwer auf Hüfte und Schultern, als ich die trockene und staubige Welt der Pampa langsam hinter mir liess und die Berge des Archipels im Küstendunst vor mir aufragen sah. Ich war immer wieder erstaunt über den raschen Wechsel von Klima und Vegetation; keine hundert Kilometer lagen zwischen den wüstenartigen Weiten im Osten und dem wuchernden und regenreichen Wald der Küste. Neujahr verbrachte im am Rio Perro, doch ich fing nur massenweise kleine Babyforellen, die niemanden satt gemacht hätten – nichtmal im Dutzend. Auf der nahen Estancia Skyring hatte ich mir Fleisch besorgt und hierbei erfahren, dass die letzte reinblütige Yaghan bis zu ihrem Tod vor wenigen Jahren in der Gegend gelebt hatte. Doch wo genau? Ich erfuhr es nicht. Ich hatte allerdings bereits in Deutschland von dieser Dame gehört, hatte jedoch die ganzen Pueblos durcheinandergebracht und geglaubt, sie sei vom Stamme der Selk’nam gewesen. Das Archipel hier am Seno Skyring war auch eher die Heimstätte der Alacalufe gewesen, eines weiteren Stammes von Ureinwohnern, die quasi in Kanus gelebt und sich vor allem von dem ernährt hatten, was das Meer so hergab. Man hatte mir auch von den Menschen berichtet, die hier an der Küste lebten – die meisten davon Puesteros, also Arbeiter einer Estancia, die in einiger Entfernung zum Gehöft in kleinen Holzhütten lebten. Ich wurde auch vor einer Person gewarnt, die weiter im Osten an der Bucht nördlich des Cerro Diadema leben sollte – eine Persona mala, also eine „schlechte Person“, die stehle und die ich meiden solle. Ein alter Weg führte entlang der Küste, in deren Buchten sich zahlreiche Lachszuchstationen angesiedelt hatten. Etwas abeits des Weges erblickte ich eine weiss gestrichene Hütte, eine kleines Holzboot lag davor am Strand, ein Hund hatte mich offenbar gewittert und bellte drauflos. Ich hatte alles, was ich für die nächste Zeit benötigte, dabei und ging deshalb weiter. Doch ein Gedanke liess mich umdrehen: ich wollte den Fischer fragen, wie ich hier in…
Ich folgte dem Weg weiter, der den Südzipfel der Cordillera Pinto umrundete, überquerte die Landbrücke, die die Halbinsel des Cerro Diadema mit dem Festland verbindet, und erreichte die Bucht, an deren Ufern jene Persona mala leben sollte, sechs Tage nach meinem Aufbruch in Villa Tehuelches. Ein grosser Fluss entsprang weiter im Norden in der Turbiaebene und mündete schliesslich in die Bucht, und an jener Stelle lagerte ich und legte einen Tag Pause ein. Auf gut Glück warf ich den Blinker aus und fing tatsächlich mehrere Fische einer Art, die ich nicht kannte. Es waren Roballos, eigentlich Meerestiere, die sich ein paar Meter in das Wasser des Flusses vorgewagt hatten. Sie hatten nicht den feinen Geschmack einer Forelle oder eines Lachses, doch als Zugabe zu meinen Nudeln waren sie mir jederzeit willkommen. Die Durchquerung jenes Flusses gestaltete sich schwieriger als erwartet; das Wasser war über einen Meter tief, und nur eine Sandbank, der Mündung des Flusses etwas vorgelagert, bot mir die Möglichkeit, mit trockenen Sachen das andere Ufer zu erreichen. Dadurch musste ich erst einige Meter in die Bucht hinauswaten, um dann in einem Bogen an den Strand gegenüber zurückzukehren. Wäre in diesem Moment jemand dazugekommen, so hätte er einen Gringo in Unterhosen und mit Rucksack gesehen, der in die Bucht hinauswatet – sicher ein bizarrer Anblick. Ich wollte hoch auf den Berg am anderen Ende der Bucht, um ein wenig die Gegend überblicken zu können. Doch die Flussbetten in der Bergflanke waren so steil eingeschnitten, dass ich die fast senkrechte Wand hinaufmusste – zum Glück gab es Vegetation, an der ich mich hinaufziehen konnte, doch das Gehölz war oft morsch und der Boden weich und moosartig. So benötigte ich Stunden, bis ich endlich in die Nähe des Gipfels kam und mein Zelt unsinnigerweise auf einer zwar topfebenen, aber völlig dem Wind ausgesetzten Stelle aufbaute – der Aussicht wegen. Wie um mich dafür zu bestrafen, ereignete sich folgendes: als ich gerade meine Jacke auszog und mich bückte, um etwas aus dem…
Nun ging es darum, einen Weg an den Seno Obstruccion im Norden zu finden. Die Küste beim Paso del Indio, einer schmalen Landbrücke, war dicht bewaldet und hätte mich wahrscheinlich mehrere Tage gekostet; die Ebene auf der anderen Seite des Berges war flach und schien nur aus Turbia zu bestehen. Nun denn, warum sich nicht einmal einen richtigen Sumpfmarsch geben. Denn Flüsse kamen aus den Bergen ringsum und sorgten dafür, dass das ganze Gebiet ständig unter Wasser stand. Regen und Sonne wechselten sich im Halbstundentakt ab, so dass ich dauernd damit beschäftigt war, meine Regensachen an- und auszuziehen. Kleine Fliegen fielen über mich her, wenn ich mich zu einer Pause niederliess. Nach acht Stunden war ich endlich an der Küste angelangt und hatte wieder trockenen Boden unter den Füssen, und am Rio Blanco traf ich auf die ersten Menschen nach sieben Tagen. Alle schienen hier miteinander verwandt zu sein: die Alte rannte davon, als sie mich mit meinem Rucksack ankommen sah, und ihr erwachsener Sohn kam mich an meinem Lagerplatz besuchen, um sich über das Woher und Wohin meiner Reise zu erkundigen. Ich zeltete unweit einer kleinen Estancia, und Francisco der Estanciero erzählte mir die Geschichte eines Deutschen, der im Jahre 1929 mit Packpferden und Arbeitern und allem möglichen Gerät hier an der Küste vorbeigekommen war, die schmale Landbrücke der Halbinsel Nuñoz Gomero überquert und versucht hatte, am Fusse des Vulkanes Mte. Burney eine Estancia aufzuziehen. Natürlich hatte das Ganze nicht funktioniert, und die Halbinsel war heute wieder völlig menschenleer. Nur ein alter Friedhof irgendwo an der Küste zeugte noch von den Anstrengungen vergangener Tage. Es waren nun noch rund zwei Tage Fussmarsch nach Puerto Natales, der Kleinstadt am Golfo Almirante Montt und Ausgangspunkt für die Touristenlawine, die jedes Jahr zur Hochsaison in Richtung des Parque Nacional Torres del Paine rollt. Um die Sache etwas abzukürzen, entschloss ich mich zu einem Tagundnachtmarsch; so konnte ich die siebzig Kilometer in einem Stück abreissen. Auf der Estancia La Junta wurde ich zum…
Nun war ich also in der Touristenhochburg Puerto Natales angelangt, wo sich die Menschen ihre langgehegten Träume in Erfüllung gehen lassen; und offenbar träumen alle dasselbe: den Torres del Paine Nationalpark besuchen! Ich hatte das Wandern hingegen erstmal ein wenig satt und suchte nach Abwechslung. Auf meinen bisherigen Touren hatte ich eine Schwäche für sinnlose oder zumindest ungeeignete Fortbewegungsmittel entwickelt, und so wollte es der Zufall, dass ein Viejo wenige Meter neben meiner Herberge ein Fahrrad zu verkaufen hatte. Ein Mountainbike oder dergleichen wäre kaum besonders interessant gewesen, doch dieses Fahrrad hatte Charakter. Die Vorderradbremse machte zwar einen etwas abenteuerlichen Eindruck, doch bis nach Villa Tehuelches war die Gegend ja eher flach. Meine Idee war es nämlich, dorthin zurückfahren, um das Festival de la Esquilla mitzuerleben. Nachdem ich den Preis des Fahrrades von zehn auf achttausend Pesos heruntergehandelt hatte, machte ich mich auf, um zunächst noch einen kurzen Abstecher ins Nachbarland Argentinien zu machen, dessen lockere Lebensart ich in den vergangenen Wochen etwas vermisst hatte. Überall wo ich hinkam hatte mein Fahrrad alle Sympathien auf seiner Seite, und so halfen mir die Grenzer, einen Lastwagen zu finden, der mich über die Schotterpiste an die Ruta 40 brachte. Doch die Ruta 40 war ebenfalls nicht mehr als eine holprige Staubpiste – nicht gut für mein Fahrrad. Per Anhalter kam ich dennoch bis 28 de Noviembre, einem kleinen Ort in den Bergen unweit des Wintersportortes Rio Turbio. Auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz traf ich Juan Carlos, den Präsidenten des hiesigen Hippotherapie-Vereines, der es mir erlaubte, auf seiner Chacra zu zelten. Abends erzählte er mir von der Arbeit, die wohl vor allem darauf basiert, dass das Reiten sehr gesund und förderlich ist für die Motorik von körperlich sowie geistig Behinderten. Für seine erst kürzlich ins Leben gerufene Organisation benötigte er eine Webseite, doch den Preis dafür konnte er nicht bezahlen. So machte ich ihm einen Vorschlag: wenn er mir die Grundzüge des Reitens beibrächte, würde ich ihm die Webseite bauen. Wir…

Kapitel 2
Das Festival de la Esquina

Ich hatte die Radfahrer, die ich unterwegs traf, manchmal um ihre Geschwindigkeit beneidet – bei einer Radtour kommt eine ganz andere Dynamik auf als bei einem Fussmarsch. Doch der Radfahrer muss immer auf der Strasse bleiben, und wie ich jetzt auf der Ruta 9 nach Süden fuhr, wurde mir wieder klar, warum ich nach meinen letzten Radtouren unbedingt zu Fuss los wollte. Was für ein Unterschied waren die vier Tage, die ich für die hundertfünfzig Kilometer nach Villa Tehuelches benötigte zu den fast zwei Wochen, die ich in den Bergen an der Küste verbracht hatte! Man fährt auf der Strasse und ahnt gar nicht, was sich wenige Kilometer jenseits davon abspielt. Die Sache mit dem Fahrrad war natürlich eine einzige Schnapsidee; ich wurde krank, da ich das Wasser direkt aus dem Rio Rubens getrunken hatte, und das Wetter spielte verrückt und der Wind blies mich tot. Endlich in Villa Tehuelches angekommen baute ich mein Zelt wieder auf und machte einen kleinen Rundgang durch den Ort. Überall waren alle eifrig mit den Vorbereitungen beschäftigt. Das grosse Ereignis des Jahres stand unmittelbar bevor. Ich traf hier und da Bekannte von meinem Aufenthalt von vor zwei Wochen. Alles war echt chilenisch, Touristen waren kaum zu sehen. Mit ein paar Stunden Verspätung startete das Festival dann in den brütend heissen Nachmittag. Es wurden zunächst hauptsächlich Musik und Folkloretänze dargeboten, bei denen Caballeros mit Sporen an den Stiefeln und Ponchos über der Schulter tücherschwenkend um Mädchen herumtanzten, die in bäuerlich wirkende Röcke gekleidet waren. Dabei lächelten die Tänzer in einem fort, was bestimmt nicht einfach war bei der Anstrengung und der Hitze. Danach gab es Klamauk-Nummern, bei denen der Ansager von einer schmuddeligen Alten besprungen wurde, und schliesslich wurde auch die namensgebende Esquilla gezeigt, bei der ein komplettes Schaf in etwa anderthalb Minuten geschoren wurde. Nebenan auf einer eingezäunten Wiese lief gleichzeitig eine Jinetada ab, bei der Reiter aus den umliegenden Nachbarländern teilnahmen. Auch die beeindruckenden Fähigkeiten der perros de oveja wurden gezeigt. Ein Hund…
Juan Carlos und seine Lebensgefährtin Fabiana hatten mich nicht so früh zurückerwartet, doch nun stand ich da und wollte alles über die Criollos lernen. Fünfzehn Tage, hatte Juan Carlos gesagt, würde es mindestens dauern, um einen brauchbaren Reiter aus mir zu machen. Um die Beiden nicht übermässig zu strapazieren, quartierte ich mich in der kleinen Herberge „Don Jorge“ ein, wo ich den Preis noch etwas herunterhandeln konnte. Ausserdem war das Zimmermädchen sehr schön. Die Argentinier haben eine ausgesprochen gelassene Art, einem Gringo das Reiten beizubringen. Kurz werden vor dem ersten Satteln die wichtigsten Grundregeln angesprochen, wie etwa „Gehe nie hinter dem Pferd hindurch“, „Wenn du nicht willst, dass das Pferd frisst, dann binde es weiter oben am Pfosten an“ usw., dann geht es auch schon ans Eingemachte. Ich kann nicht sagen, dass ich nicht etwas nervös gewesen wäre, als meinem Pferd, einem kleinen alten Mestizen, der Sattel aufgeschnallt wurde, nicht zuletzt, weil das Tier übelgelaunt um sich biss, doch kaum sass ich im Sattel, fühlte ich mich besser. Im Gegensatz zum steifen und aristokratisch wirkenden europäischen Reitstil hält der Argentinier die Zügel nur mit einer Hand, in der anderen Hand hat er meist eine Art Peitsche aus Leder, oder auch eine Machete oder Zigarette. Sehr sympathisch. Wir ritten los Richtung Julia Dufour, einer kleinen Nachbarortschaft, und nach zehn Minuten versuchten wir den ersten Trab, und gleich danach bereits den Galopp. Im Laufe der Tage lernte ich immer besser, mich im Sattel zu halten, wobei ich vor allem darauf achten musste, locker in der Hüfte zu bleiben. Dazwischen arbeiteten wir an der neuen Webseite für Juan Carlo’s Organisation. Eine Menge Leute gingen in der Chacra aus und ein, allesamt Freunde meiner beiden Gastgeber. Juan Carlos hatte seine Arbeit bei der Municipalidad aufgegeben, um sich ganz der A.C.C.A.E.D. widmen zu können, doch in den Tagen, die ich dort war, sah ich kaum jemals einen Kunden. Es war auch irgendwie seltsam, zu sehen, mit wie wenig er und Fabiana auskommen mussten, obwohl Fabiana…
Meine über zwanzig Jahre alte Karte des Instituto Geographico Militar verzeichnete einen Weg nach Norden, den es nach der Aussage der Leute, die ich am Strassenrand fragte, gar nicht gab. Blieb mir also nur die Ruta 40. Es wurde mir bald wieder zu dumm, auf einer Strasse dahinzumarschieren, und ich stieg in die Hügel in Richtung der Cordillera Chica, von den Einheimischen auch liebevoll „falsche Kordillere“ genannt. Kleine weisse Margeritas bedeckten die Wiesen wie ein Teppich. Ich war froh, wieder mit mir selbst unterwegs zu sein. Dennoch lag mir der vorzeitige Abschied von Juan Carlos und Fabiana etwas schwer im Magen. Seltsame, schnurgerade Wege durchkreutzen die Landschaft, exakt nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet. Da die chilenische Grenze nur wenige Kilometer entfernt war, vermutete ich eine Art militärstrategische Einrichtung. Ich benutzte einen dieser Wege, um auf direkte Art und schnell nach Norden vorzustossen. Hier sah ich nun erstmal ein Patagonien, wie ich es mir in Europa vorgestellt hatte. Eine vielleicht zwanzig Kilometer weite Ebene erstreckte sich vor mir, und an deren nördlichem Ende sah ich das Gebirge, kahl und trocken und sonnenverbrannt, und im Nordosten die Meseta Vizcachas, an deren Fuss ich die Estancia Vizcachas vorfinden sollte. Im Westen, klein und halb hinter Wolken versteckt, das Torres del Paine-Massiv. Es war aus dieser Distanz von fast hundert Kilometern vielleicht nicht ganz so imposant, dafür umsonst. Nun, beim Marsch durch diese Landschaft, auf die die Sonne meist unerbittlich herunterbrennt, stellte sich mir zum ersten Mal die Frage: wo gibt es Wasser? Keine Flüsse waren in der Karte eingezeichnet, nur hier und da ein paar Lagunen, meist salzig. Es gab vereinzelte Estancias am Fusse der Berge, die zu erreichen aber einen erheblichen Umweg bedeutet hätte. Ich vertraute auf mein Glück und marschierte weiter nordwärts. Anderthalb Tage fand ich kein Wasser. Bis auf eine schmutzige und schlammige Schafstränke, an der ich mir zum Kochen Wasser in meine Thermosflasche füllte. Bei der Gelegenheit fiel mir meine Kamera aus der Hemdtasche und in die brackige Brühe. Ich…
Ich war mal wieder pünktlich zum Mittagessen eingetroffen und rammte mir die Fleischstücke mit den Kartoffeln ins Gesicht. Der Fluss führte mehr Wasser, als ich es in so einer trockenen Gegend vermutet hätte, und am Ufer rauschten die Bäume im Wind. In solchen Momenten wird einem klar, was Oasen sind. Die Besitzer des Gutes wollten aber, als ich sie um einen Lagerplatz bat, dass ich mein Zelt ausserhalb des Grundstückes aufbaute. Warum ausserhalb? Hatten sie Angst, dass ich mit meinen staubigen Klamotten ihren Rasen beschmutzte? Ich hatte noch genug von den letzten Tagen und wollte niemandem zur Last fallen. Ich zog weiter. Wie unterschiedlich die Menschen sein können. Als nächstes traf ich einen Reiter von der Nachbarestancia. Als er über die Hügelkette geritten kam und mich am Flussufer entlangmarschieren sah, schien er kurz zu stutzen. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und kam den Abhang hinabgaloppiert. Wenige Meter vor mit brachte er sein Pferd zum Halt und stieg ab, um mir die Hand zum Gruss zu geben. Wärend wir uns unterhielten, jagten seine drei Hunde einen kleinen grauen Fuchs. Das Tier hatte keine Chance, und die Hunde spielten mit ihm wie die Katze mit der Maus. „Jetzt töten sie ihn“, sagte der Gaucho, und tatsächlich blieb von dem Fuchs nicht viel übrig. Mein Gegenüber hatte eine Bola dabei; damit fing er sich hin und wieder einen leckeren Ñandu. Ich durfte die Bola einmal probeschleudern, und war über das Gewicht ziemlich erstaunt – mit sowas hatten die Tehuelche also auf fünfzig bis sechzig Meter punktgenau getroffen… Mein neuer Bekannter lud mich noch auf die Estancia ein, doch ich hätte kilometerweit zurückmarschieren müssen und lehnte daher dankend und nicht ohne ein wenig Bedauern ab. An einer Flussbiegung schlug ich mein Lager auf und verbrachte dort einen ruhigen Pausentag. Ich fing einen Lachs und briet ihn mir auf einem Stein, den ich im Feuer erhitzt hatte. Der Weg durch die Ebene war nun zurückgelegt, und das Gebirge wartete auf mich. Kurz vor…

Kapitel 3
Zwischen zwei Ländern

Irgendwo vor mir in den Bergen war die Estancia Vizcachas, und dort musste ich nach dem Weg fragen; denn wo genau der Pass war, über den ich musste, konnte man mir nur dort sagen – dachte ich. Es wurde ein Acht-Stunden-Tag, bevor ich die Estancia am Fusse des Cerro Negro erblickte. Ein verrückter Paltz für eine Estancia, wie ich fand. Stunden von der nächsten Strasse entfernt, umgeben von Bergen und Hügeln. Ich stieg hinunter an den Rio Vizcachas, der hier schnell und eiskalt floss, und schlug im letzten Licht des Tages mein Lager auf. Hier oben, lediglich ein paar hundert Meter über der Ebene, in der ich mich die Tage zuvor zu Tode geschwitzt hatte, wurde es nach Einbruch der Dunkelheit rapide kälter. Am nächsten Mittag dann die Überraschung; die beiden Gauchos der Estancia Vizcachas konnten mir ebenfalls keine näheren Angaben über den Paso Verlika machen, kannten ihn höchstens dem Namen nach. Zumindest sagten sie so – mir kam das Ganze nämlich langsam etwas seltsam vor. Wahrscheinlich hielten mich die Leute für einen chilenischen Spion, als Tourist getarnt und mit gestelltem Gringo-Akzent. Am Ende des Tales, wo der Rio Vizcachas entsprang, gab es drei Täler – welches nehmen? Ich hatte zwar die Karte des IGM, doch dort war der Paso Verlika jenseits der Grenze in chilenischem Gebiet eingezeichnet. Einer der beiden Vizcachas Leute ging mit mir einen nahen Hügel hinauf und zeigte mir die ungefähre Richtung, und ich glaubte, zu verstehen, dass das mittlere Tal das Richtige sei. Am Ende des Haupttales gab es noch einen letzten Puesto, dort wüssten die Leute den Weg, hiess es. Das Tal war unglaublich breit und die Seiten, von urzeitlichen Gletschern geformt, liefen rund an den Bergen empor wie bei einer riesigen prähistorischen Badewanne. Winzigklein erkannte ich in kilometerweiter Entfernung die kleine Holzhütte des Puestos der Estancia Vizcachas, dahinter ragten die zackigen Felsen und Berge der Cordillera auf. Natürlich hatte ich es fast so erwartet; der einsame Gaucho im Puesto „war gerade erst angekommen“…
Vor mir der Pass und die Berge, über mir ein Himmel, der sich mehr und mehr zuzog und es schliesslich schneien liess, so dass das Tal unter mir hinter einer weissen Mauer verschwand und sich die Sicht auf wenige hundert Meter verringerte. Aber das machte nicht so viel aus, weil es sowieso nur einen Weg gab. Irgendwo hier, am höchsten Punkt des Bergrückens, verlief die chilenische Grenze. Um über den Paso Verlika zu gelangen, würde ich für kurze Zeit illegal Einreisen müssen. Doch das hier oben irgendwo ein Carabinero hockte und aufpasste, dass niemand gegen internationales Recht verstiess, hielt ich für eher unwahrscheinlich. Je weiter ich nach oben kam, desto mehr Gedanken machte ich mir über den Abstieg auf der anderen Seite, denn auf meiner topographischen Karte waren die Höhenlinien im Westen um einiges dichter eingezeichnet, was darauf schliessen liess, dass der Weg hinab viel steiler war. Aber hier mussten die Reiter aus Calafate schliesslich durchgekommen sein. So dachte ich, bis ich den höchsetn Punkt des Aufstiegs erreichte und im Schneetreiben an den Abhang trat, der nach Chile führte: Unmöglich! Unmöglich, hier mit einem Pferd hinaufzuklettern! Irgendwas war hier schief gelaufen. Doch ich hatte den einzig möglichen Weg aus jenem Tal genommen, durch das die Reiter gekommen sein sollten! Ich blickte hinab: ein Geröllhang fiel in einem steilen Winkel ab ins Tal, um keine hundert Meter weiter unten in einer Reihe von steil aufragenden Felsen zu enden – was dahinter lag, liess sich nicht erkennen. Ein weiterer Hang, eine steile Felswand? Mir wurde recht mulmig zu Mute. Der Geröllhang sah noch einigermassen machbar aus, doch eine steil abfallende Felswand würde ich nicht hinunterkommen, und das würde Umkehren und stundenlanges Zurückmarschieren zum Puesto bedeuten – keine erfreuliche Vorstellung. Auch die Steilheit des Hanges begann, mich etwas unruhig zu machen. Also zwang ich mich erstmal zu einer Pause, die ich unter dem natürlichen Schutzdach eines aus dem Fels herausgebrochenen Steines verbrachte. Ich trank den heissen Tee, den ich mir noch im Tal…
Tat es eigentlich weh, in den Bergen abzustürzen? Diese Frage beschäftigte mich, während ich Schritt für Schritt abstieg. Ein kurzer, schrecklicher Moment des Halt-Verlierens, danach der Fall und der Aufschlag, und eine kurze Zeit, die einem blieb, bis man seinen letzten Atem aushauchte. All diese Felsen wirkten so hart. Aber vermutlich war es immer noch besser, als in einer Grosstadklinik an den Schläuchen zu hängen, um endlich, als Soundsovielter in diesem Monat, den Löffel abzugeben. Währenddessen hangelte ich mich vorsichtig zum Flussbett hinüber. Ich sah, das etwas die Sache erschweren würde: das spärliche Wasser nämlich, das hier den Fels hinunterfloss, rieselte unter einer dicken, harten Schneeschicht, die sich darüber gebildet hatte. Der ganze Abstieg war eine weisse Schneerutschbahn, mit hier und da herausragenden Felsen. Würde ich ausutschen und auf dem Schneefeld hinuntersausen, würde ich mir daran alles mögliche Aufschlitzen. Ich klammerte mich, wärend ich versuchte, mit der Ferse notdürftige Stufen in den Schnee zu treten, an Felsen und Steinen fest, und erreichte so die Stelle, wo sich der Bach eine Schneise durch die Felswand gebahnt hatte. Ich hatte optisch etwas Schwierigkeiten, die Steilheit des Hanges unter mir zu erkennen; direkt von oben wirkte es fast senkrecht, doch wiederum konnte ich nur einen Teil des Weges sehen, und vertraute so einfach auf mein Glück. Ein Zurückklettern wäre jetzt extrem kräftezehrend und zeitaufwendig geworden. Dann: die Erleichterung! Ich hatte die Seite des Schneefeldes gewechselt und kletterte nun wieder über zwar nassen, aber dennoch sicheren Felsen, als ich sah, dass das Geröllfeld unter mir in einem sanften Schwung direkt in den Talboden mündete. Geschafft! Ich lebte noch! Der Regen durchnässte mich, als ich neben einem grossen Felsbrocken eine kurze Pause einlegte und einen Blick zurück wagte. Ich hatte mehr Glück als Verstand gehabt: der Durchgang durch das Flussbett war die einzige Möglichkeit hinab ins Tal gewesen, ringsherum nur steil abfallende Felswände! Der Bammel, den ich oben am Bergkamm verspürt hatte, war heftiger als gedacht gewesen, das merkte ich nun am Grade meiner Erleichterung.…
Ich kam an mehreren kleinen Puestos vorbei, die zur Estancia weiter unten im Tal gehörten. Es war früh morgends, und ich wollte niemanden stören und marschierte still vorbei. Ein einfacher Weg war nun da, der aussah, als wäre jemand kreuz und quer mit einer Planierraupe über die Hügel gefahren. Immer wieder musste ich meine Schuhe ausziehen, da der Fluss von einer Seite des Tals auf die andere mäanderte. Es war einer dieser zwanzig-Zentimeter-Flüsse: so nannte ich bei mir die Gewässer, bei denen an allen Stellen immer der eine Schritt fehlte, um trockenen Fusses über die Steine ans andere Ufer zu gelangen. Irgendwann hatte ich es dann satt und latschte einfach mitsamt Schuhen durch das Wasser – es war so warm, dass das Leder rasch wieder trocken wurde. Meine Gedanken kreisten um den Lago Argentino und die Stadt El Calafate, ein Touristenparadies am Südufer des Sees und einziger Ort, wo ich neue Vorräte bekommen würde. Ich hatte in den Wochen zuvor gefunden, dass es einfacher war, ausgeruht in eine Stadt zu kommen, anstatt ausgehungert und auf dem Zahnfleisch gehend einzumarschieren, und so machte ich einen letzten Pausentag am Ufer des Flusses. Ich wollte mir was zu essen fangen, doch es gab wieder nur kleine Winz-Forellen, von denen eine allerdings anbiss: der Blinker war halb so gross wie sie! Der Weg, angenehm zu gehen, machte ein paar lange Windungen durch die Hügel, und dann war ich an der letzten Biegung angelangt und sah ihn vor mir: türkisblau lag er vor den Bergen der Andenkordillere – der Lago Argentino. Ein neues Kapitel hatte in meiner Reise begonnen; ich war nun im Land der grossen Seen.

Kapitel 4
Die großen Seen

Neben der Strasse, etwas tiefer gelegen am Ufer, war die Estancia Querencia. Dort erkundigten wir uns über die Gegend und erfuhren, dass es für uns nicht möglich wäre, weiterzufahren. Irgendjemand hatte sämtliche Estancias weiter im Westen gekauft, und aus dem riesigen Besitz, der sich daraus ergab, sollte nun offenbar ein Naturreservat entstehen. Das war dann auch die Erklärung, warum auf meinen Karten nichts davon eingezeichnet war; da gab es nur eine öffentliche Strasse bis zum westlichsten Punkt des Ufers. Die beiden Frauen drehten um, um irgendwo anders zu picknicken, ich dachte jedoch nicht daran, wieder zur blöden Ruta 40 zu fahren und blieb zurück. Dem Gaucho, mit dem wir uns unterhalten hatten, schien das gar nicht zu gefallen. Er forderte mich auf, ebenfalls zurückzufahren, da es hier kein Weiterkommen für mich gäbe. Ich bot ihm eine Zigarette an, aber er wollte keine und wies mich stattdessen an, mit dem Besitzer oder Boss zu reden, der die ganze Zeit über vor seinem Haus gestanden und sich über sein Handy mit jemandem unterhalten hatte. Ich stellte mich also hin und wartete auf das Ende des Gesprächs. Es wurde langsam Herbst, und die Pappeln mit ihren dunkelrot gefärbten Blättern gaben dem Gehöft eine Stimmung wie von Abschied. Dann war der Boss endlich fertig mit seinen Unterweisungen und wendete sich mir zu. Seine blauen zusammengekniffenen Augen blickten mich nicht allzu entspannt an. Blaue Augen, hier? Doch unwichtig nun, erstmal musste ich über mein Weiterkommen verhandeln. Ich grüsste auf Spanisch und unterbreitete mein Vorhaben, zu Fuss an den Upsala-Gletscher im Westen zu gelangen. Noch nie war mir auf einer Estancia die Erlaubnis zum Durchmarsch verwehrt worden; so erlebte ich es hier zum ersten Male. Denn der Verwalter – das war seine wirkliche Aufgabe – blieb hart. Niemand, der nicht zur Estancia oder dem Team der Wissenschaftler gehörte, die hier in der Gegend arbeiteten, durfte durch das Gatter. Ich bin nicht allzu diplomatisch veranlagt, und wenn jemand stur auf seinem „Nein“ beharrt, sehe ich meist kein…
Doch obwohl wir nun gut miteinander zurechtkamen, konnte oder wollte mir Peter keine Erlaubnis geben zum Durchmarschieren an den Brazzo Norte. Das einzige, was mir offenbar blieb, war, das Naturreservat weiträumig zu umgehen und weiter im Nordwesten die Station der Parkwächter aufzusuchen. Mir fehlte nämlich eine Sondererlaubnis, den Nationalpark an einer anderen Stelle als an den für die Touristen eingerichteten Zugängen zu betreten. Laut Peter konnte ich eine solche Erlaubnis aber nur in El Calafate, dem Hauptquartier der Parkverwaltung, erhalten. Es war klar, das mich keine zehn Pferde zurück in diese Stadt bringen würden, und so spielte ich bereits mit dem Gedanken, mich klammheimlich durch die Berge zu schmuggeln. Ich wusste allerdings nicht, ob der Weg durch die Kordillere im Westen der Parkstation zu Fuss so ohne weiteres möglich war. Ich verglich meine sämtlichen Karten miteinander, und auf den Satellitenbildern sah es so aus, als gäbe es zwischen zwei Seen, der Laguna Azul und dem Lago Tannhaeuser, einen weniger hoch gelegenen Pass. Scheinbar die einzige Möglichkeit, in die tiefer gelegene Ebene im Westen und zur Estancia Christina zu gelangen. Peter zeigte mir auf meiner ungenauen Karte noch den ungefähren Standpunkt von zwei verlassenen Puestos, die jeweils im Abstand von etwa einem Tagesmarsch in den Bergen lagen. Seit das grosse Projekt mit dem Naturreservat im Gange war, gab es hier nämlich keine Viehzucht mehr, und die Berge im Norden waren somit völlig verlassen. So machte ich mich also auf den Weg nach Norden, zum höchsten Berg der Gegend, an dessen Fusse ich den ersten Puesto finden sollte. Tagelang war das Wetter schön gewesen, doch wie ich nun auf einem alten Weg der Estancia in die Hügel stieg, zogen sich über den Bergen des Eisfeldes dichte Wolken zusammen, und es begann zu regnen. So sah ich also von den Bergen und dem dahinter liegenden Eisfeld – gar nichts. Die Ungewissheit, ob ich überhaupt an den Upsala-Gletscher gelangen könnte, lag mir auch etwas schwer auf dem Gemüt, so dass ich mich nicht allzu…
Ich sank zurück und schloss die Augen. Ich hatte das Szenario schon ein paarmal im Kopfe durchgespielt; ohne so etwas banales wie einen Topf auszukommen war schwieriger und aufwändiger, als man zunächst vermuten mag. So mancher fettarschige Survivalkurs-Teilnehmer mag da mir gegenüber im Vorteil sein, da er weiss, wie man durch eine mit Folie ausgekleidete Grube im Boden oder dergleichen das Kochutensil ersetzen kann. Mir hingegen blieb nur folgendes: ich musste mein treues Konservendosenangelgerät auseinandernehmen, um mir darin wenigstens eine kleine Mahlzeit Kartoffelpüree zubereiten zu können. Zurück zur Estancia Querencia, nur um mir einen Topf auszuleihen, war nicht. Ich hoffte, irgendwo vor mir in den Bergen auf Menschen zu treffen, die mir damit aushelfen konnten. So verabschiedete ich mich innerlich von meinem treuen Topf, der schon in Norwegen dabei gewesen war, kroch in den Schlafsack und wartete auf den Schlaf. Es galt nun, in diesen ausgetrockneten Bergen nicht nur Wasser, sondern auch einen neuen Topf zu finden, auf der Strasse im Norden zur Hütte der Parkwächter zu gelangen und dort eine Erlaubnis für den Nationalpark zu erbetteln – wenn ich denn ohne weitere Ausrüstung überhaupt durch die Kordillere würde klettern können! Der Gedanke, eventuell die Eisberge und den Gletscher und die ganzen Bergseen und Lagunen nicht zu Gesicht zu bekommen, im Gegensatz zu den schlaffen Touristen, die fünfzig Dollar auf den Tisch legten für einen Bootsausflug zur Estancia Christina, nagte in meinen Eingeweiden. Ich würde alles tun, um es nicht dazu kommen zu lassen. Am nächsten Morgen war ich schon wieder etwas zuversichtlicher. Ich packte alles zusammen und fing an, den Berg vor mir zur Rechten zu umrunden, das schien mir der einfachere Weg. Bald darauf kam ich an einen verlassenen Korral, und als ich etwas näher kam, sah ich hinter einer Erhebung versteckt das Dach des Puestos, den ich gestern vergeblich gesucht hatte. Ich rüttelte an der ersten Tür – sie war mit einem massiven Eisenschloss gesichert. Die zweite Tür war offen, und ich betrat die kleine, stabil gebaute…

Kapitel 5
Durch verlassene Berge

Doch die Trockenheit der letzten Monate hatte den Grundwasserspiegel so weit absinken lassen, dass der Eimer wenige Zentimeter über dem Wasser hängen blieb. Zudem sah die Brühe nicht allzu sauber aus, also liess ich es sein, schulterte meinen Rucksack und vertraute aufs Glück – irgendwo würde ich schon Wasser finden. Früher als erwartet sah ich den zweiten Puesto, in einem breiten, stillen Tal direkt an einem kleinen Bach gebaut. Wie es aussah, wurde dieser Puesto noch hin und wieder von jemandem besucht; Kaffeepulver war da und ein wenig Pasta, ein Wasserhahn mit fliessendem braunen Wasser und vor der Tür genügend Holz für einen halben Winter. Da ich nicht glaubte, hier von jemandem gestört zu werden, machte ich es mir für den Rest des Tages bequem: ich spaltete Holz mit meiner Machete, was nicht besonders gut funktionierte, aber eine Axt liess sich nirgends auftreiben. Schliesslich ging ich herum und hackte die Holzpfosten der alten Zäune, die überall im Gebüsch herumlagen, zu handlichen kleinen Scheiten, die ausgezeichnet brannten. So machte ich im Ofen ein ordentliches Feuer, auf dem ich mir Mittag- und Abendessen zubereitete und so ausserdem das Benzin meines Kochers rationieren konnte. Ich wickelte mein Allzwecktuch um den Wasserhahn um den braunen Schmodder aus dem Wasser zu filtern und es direkt trinken zu können. Überall um die Hütte gab es Calafatesträucher, und mit einer kleinen Plastiktüte ging ich Beeren pflücken und bereitete mir zum Nachtisch einen Beerenpudding mit dem Pulver, dass ich aus El Calafate mitgebracht hatte. Dann, satt und ein wenig müde, sass ich am Tisch und studierte wieder die Karten und schaute mir den besten Weg durch die Berge aus. Als es dunkel geworden war nahm ich meinen Schlafsack und ging in das Nebenzimmer, wo zwei roh gezimmerte Betten standen, und in der kühler werdenden Luft der Nacht lag ich da und horchte nach draussen auf die Geräusche in den Bergen. Tags darauf setzte ich meinen Marsch nach Nordwesten fort, und ausser ein paar verstreuten Guanacos sah ich nichts…
Vor dem Hauptgebäude der Estancia türmten sich die Wollballen, doch von den Bewohnern war weit und breit nichts zu sehen. Ich vermutete, dass sie auf einer benachbarten Estancia mit anpackten – zur Zeit der Esquila wurde jede Hand gebraucht. Wie sonst sollte man zehntausend Schafe scheren? Wie ich nun nach Westen weitermarschierte, schien sich die Kordillere vor mir höher und höher aufzutürmen. Wie die Herrscher standen die schneebedeckten Berge über den braunen Hügeln des Vorgebirges. Aber es waren keine Herrscher, sondern nur Vorposten. Der eigentliche König der Gegend war das Eisfeld dahinter, dreihundert Kilometer in seiner Ausdehnung und im Westen an die Fjorde des chilenischen Archipels grenzend. Das breite Tal, durch das ich marschierte, schien von einem urzeitlichen Gletscher geformt worden zu sein, so wie die ganze Gegend. Und noch etwas anderes fiel mir auf: die Gipfel der Berge vor mir waren allesamt mit schneebedeckt und schienen unüberwindlich für einen einzelnen Fussgänger. Doch genau an dem Punkt, auf den ich jetzt zumarschierte, waren die Berge auf einer Breite von vielleicht fünf bis zehn Kilometern etwas weniger hoch, meist reichten sie sogar nichtmal bis zur Schneegrenze hinauf. Ich konnte den Cerro Sombrero ausmachen und rechts davon einen tiefer gelegenen Durchgang, eine Art Pass. Das nährte meine Hoffnungen, meinen Weg auch morgen noch wie geplant fortsetzen zu können. Denn mittlerweile war ich nahe an die Grenze des Nationalparks herangekommen. Nach den wie tot daliegenden Hügeln hinter mir war es gut, wieder etwas Wald und Wasser zu sehen; der Rio Guanano floss breit und türkisblau durch das Tal. Bei der vermeintlichen Hütte des Parkwächters baute ich mein Zelt auf und wartete, denn auch hier war niemand zu sehen. Nach einiger Zeit kam ein Fahrzeug die Strasse hinaufgefahren, und am Steuer sass Mariano, von dem ich schon von Peter wusste. Sein Posten war allerdings noch ein Stückchen weiter Flussaufwärts, und so packte ich alles auf die Ladefläche seines Wagens, wärend Mariano die Hunde des Gauchos versorgte, der in der Hütte lebte und arbeitete. Alle…
Am nächsten Tag kamen die Wissenschaftler an, die in der Gegend geologische Arbeiten durchführten. Mariano fungierte dabei als ihr Führer, da er ihnen mit seiner Kenntnis der Begebenheiten in den Bergen ringsum wertvolle Tipps geben konnte. Ich machte einen Tag Pause und hatte das Gelände meist für mich alleine, da die anderen mit dem Jeep in ein Nebental gefahren waren, um dort Gesteinsproben oder dergleichen zu nehmen. Die Geologie Patagoniens hatte mich selber schon eine ganze Weile interessiert, doch ich merkte, dass die Wissenschaftler nicht allzu keen waren auf die Anwesenheit eines Laien-Gringos, und so blieb ich bei der Hütte zurück und versuchte mir die Zeit zu vertreiben. Da waren ein paar Pferde, die die Parkwächter auf ihren Ausritten benutzten. Ich war natürlich erpicht darauf, meine in 28 de Noviembre gesammelten Erfahrungen zu vertiefen, und Mariano hatte sich einverstanden erklärt, mir ein Pferd „auszuleihen“, um die Grenzen des Parkes ein wenig zu erkunden. Als wir uns daran machten, eines der Pferde einzufangen, schien ihn diese Entscheidung dann doch etwas zu beunruhigen. „Diese Pferde sind nicht zum Reiten lernen gedacht,“ erklärte er mir, „sie sind manso, aber nicht manso-manso.“ Manso, das bedeutete soviel wie zahm oder gutmütig. Na prima, nachdem ich in 28 de Noviembre zuletzt auf einer Kreuzung aus Criollo und Pony hatte reiten müssen, sollte nun also ein richtiges Pferd her, mit Kraft und Nervosität und allem. Und tatsächlich hätte mich Juan Carlos nie auf ein solches Pferd steigen lassen, wie es nun Mariano von der Weide führte: ein schöner Brauner, vermutlich ein Criollo, und recht jung, so wie er sich aufführte. Denn jedesmal, wenn wir, vor allem ich, eine etwas zu hastige Handbewegung machten beim Satteln oder Anlegen des Zaumzeugs, zuckte das Pferd zusammen und wollte sich schier auf die Hinterbeine stellen, so dass ihm Mariano am Ende eine Fussfessel aus Leder um die Vorderläufe verpasste. Hier war Temperament am Start, und ich hatte wieder jenes etwas mulmige Gefühl beim Anblick all dieser Kraft, vor allem auch, weil…
Nachdem ich eine Weile herumgeritten war, kehrte ich zur Hütte zurück, um meinen Marsch durch das Gebirge zu beginnen. Ein letztes Mal liess ich mir von Mariano den Weg beschreiben, dann gaben wir uns die Hand und ich machte mich von dannen. Die massiven Felsformationen des Vorgebirges türmten sich vor mir auf, und hätte ich nicht gewusst, dass der Weg existierte, so wäre ich vermutlich schon bei deren Anblick ins Zweifeln geraten. Doch eine urzeitliche Kraft hatte wie mit einem riesigen Buttermesser ein schmales Tal in die Berge geschnitten, und am Ende dieses Tales ragte der Cerro Sombrero auf, von mir Cerro Samurai genannt, da mich seine Form eher an die Helme der Samuraikrieger aus den Kurosawa-Filmen erinnerte. Über weite Geröllfelder kletterte ich bergauf, kreuzte Wasserfälle und Flussläufe, von denen manche badewannenartige Aushöhlungen in die Felsen geschliffen hatten. Gegen Mittag war ich am Fusse des Berges angelangt, und konnte mich nun entscheiden, ob ich meinen Weg links- oder rechtsherum fortsetzen wollte. Laut Mariano war der Weg auf der linken Seite steiler und schwieriger, dafür kürzer. Der Weg zur rechten führte mehrere hundert Meter hinab in ein Flussbett, dann auf der anderen Seite alles wieder hinauf und, mit der Laguna Azul zur rechten, an der Bergwand entlang, bis hin zu einem riesigen, mehrstufigen Aufstieg über weitere Geröllfelder und Felswände. Diesen Weg nahm ich. Irgendwo hinter der höchsten Stelle lag der Lago Tannhauser, ein kalter Gebirgssee, dessen Abfluss, der Rio Perro, hinab zur Estancia Christina floss und dort in den Lago Argentino mündete. Durch den Reitausflug war ich erst recht spät weggekommen und musste mich nun ranhalten, um nicht im Dunkeln irgendwo in einem Geröllfeld zu stehen. Ich wollte den Lago Tannhäuser noch heute erreichen und dort mein Lager aufschlagen. Ein Felsstufe nach der anderen kletterte ich nach oben, und nun bekam ich auch eine Erklärung für diese kleinen runden Punkte, die ich auf den Satellitenkarten gesehen und die von oben wie die Sechs auf einem Würfel angeordnet waren: es waren kleine…

Kapitel 6
Der Nationalpark los Glaciares

Wie von Mariano beschrieben stürtzte der Rio Perro jenseits des Südufers des Lago Tannhäuser die Felsen hinunter. Ich folgte dem Fluss zunächst nicht, sondern kürzte den Weg über die Geröllfelder daneben ab. Bald war ich wieder unterhalb der Vegetationsgrenze, und zwei Spezies von kleinen roten Beeren, von denen ich wusste, dass sie essbar waren, wuchsen in Massen zwischen den Steinen. Ich liess mich einfach auf die Knie nieder und ass die süss schmeckenden Gewächse direkt von der Wiese, wie damals am Lago Kami, als ich den Löwenzahn probiert hatte. Unterhalb der Baumgrenze sah ich die ersten roten Blätter des nahenden Herbstes. Ich hatte dabei das Gefühl, in meiner Reise schneller vorankommen zu müssen – seit Monaten marschierte ich jetzt schon, doch noch nichtmal die Hälfte war geschafft. Hatte ich mich in Deutschland nicht gefragt, was ich nach den drei Monaten, die ich für Patagonien eingeplant hatte, anfangen würde? Ich hatte eine Menge Umwege und zick-zack mässige Routen gewählt, weil die Orte, die mich interessierten, nicht immer wie aufgereiht in einer Reihe lagen. Dennoch merkte ich, wie mich der Alltag, die ewig gleichen Rituale bei der Ankunft auf einer Estancia, die immergleiche Vegetation und kaum erkennbare Tierwelt etwas weniger zu interessieren begannen als noch am Anfang der Reise. Ich musste mich ranhalten und vorwärtskommen. Beim Weg hinab ins Tal sah ich durch die Bäume zum ersten Mal die Estancia Christina. Irgendein Wagehals hatte vor über hundert Jahren hier eine Viehzucht aufgezogen und war damit reich geworden. Als der Nationalpark geschaffen wurde, kam auch der Alltag auf der Estancia zum erliegen, bis dann ein anderer cleverer Mensch vor wenigen Jahren die Gebäude zu einer Hosteria umgebaut hatte, zu der jetzt die Touristen aus El Calafate geschifft wurden. Ausserdem war es ein wichtiger Anlauf- und Endpunkt für viele Expeditionen, die hier nach Wochen im Eis zum ersten Mal wieder in Kontakt mit der Zivilisation kamen. Und ich kann mir vorstellen, dass kein Einziger von ihnen mit einem schlechten Gefühl von dieser Estancica wegging…
Korbsessel, alte Utensilien der Estancia an den Wänden, eine Reihe von hübschen Mädchen, die hinter der Theke und mit den Tischen beschäftigt waren. Ich bestellte den Kaffee, die junge Dame ging weg, um einen Führer zu holen, der mir Infos über die Gegend und den Weg an den Upsalagletscher geben konnte. Während ich schlürfte, tauchte ein junger Bursche von vielleicht zwanzig Jahren auf. Er stellte sich als Juan vor und ich brachte meine Fragen an: viele Stunden Marsch bis zum Gletscher, und gab es dort eine Schutzhütte? Wo konnte ich den Fluss durchqueren, der aus der Laguna Anita in den Brazzo Norte floss? Er kannte die Gegend offenbar ganz gut und gab mir bereitwillig Auskunft. Dann verschwand er in der Küche, um sich mit dem Koch über die Lebensmittelsituation zu unterhalten. Als er zurückkam, unterhielten wir uns noch ein wenig. „Ich bin immer bei den Pferden. Wenn du noch etwas brauchst, findest du mich dort.“ Dann stand auf einmal der Koch neben mir, mit einer ganzen Ladung von Dingen. Feinstes Fleisch, Kekse, Biskuits, alles was ich benötigte wurde mir in die Hand gedrückt. Nordeuropäisch unbeholfen fragte ich nach dem Preis. Doch natürlich wollte niemand irgendetwas annehmen. Ich war wie immer etwas ratlos bei soviel Grosszügigkeit. Aber ich hatte ja noch den Kaffee, den ich bezahlen konnte! Wieviel kostete der? Nach einem kurzen Blick zu der jungen Dame hinter der Theke sagte Juan „tampoco“, genausowenig. Verdammt, wie hatte ich über diese Estancia jemals schlecht denken können? Als ich dann alles in meinem Rucksack verstaute, kamen noch zwei schöne Mädels an, um sich ein wenig zu unterhalten – die richtige Kur nach tagelangem Marsch durch einsame Natur! Ich hatte das OK erhalten, etwas abseits mein Zelt aufzuschlagen, und abends machte ich mir zur Abwechslung mal wieder einen deftigen Eintopf mit dem Fleisch, das weder Knochen noch Sehnen hatte und fein wie Butter war. In meinem neuen Topf konnte ich extragrosse Portionen zubereiten und wurde so einigermassen satt. Am nächsten Tag wartete der…
Nach einiger Zeit erreichte ich den Aussichtspunkt unweit des Refugios Upsala. Eine Gruppe Touristen aus El Calafate war gerade mit den Geländewagen der Estancia hierhergebracht worden. Ich hatte keine Ahnung, wo die Strasse verlief, auf der sie hergekommen waren. Jedenfalls hatte ich in der Schlucht ein paar Berechnungen angestellt und gemerkt, dass ich zuwenige Lebensmittel dabeihatte, um die Estancia Helsingforth am Lago Viedma zu erreichen. Ein weiblicher Guide mit einer Gruppe Touristen kam mir entgegen, und ich bekam ein Bussi auf die Wange gedrückt. Dann fragte ich sie, ob es möglich wäre, ein Kilo Nudeln von der Estancia hierherzuschaffen, zum Beispiel mit den Ausflüglern, die morgen zur selben Zeit zum Refugio gebracht werden würden. Kein Problem, sagte sie, ich solle mir nur keine Gedanken machen – einer der Führer würde die Lebensmittel morgen mitbringen. So brauchte ich nur den restlichen Tag im Refugio zu verbringen und am nächsten Tag auf meine „Lieferung“ zu warten, um mich dann ohne Druck im Nacken auf den Weg durch das Tal des Rio Norte machen zu können. Die Touristen schoben ab, und ich hatte den Ort für mich. Ich denke mir, dass das Foto der Szenerie in diesem Fall für sich selber spricht. Über dem Eisfeld hing eine dichte Wolkendecke, und es schien verrückt, dort irgendwelche Expeditionen durchzuführen – und doch gab es dutzende Unternehmungen in der Vergangenheit, die dort durch gekommen waren. Abends richtete ich mich im Refugio ein, und der Wind draussen nahm an Stärke zu. An den Wänden des Refugios hingen Fotos der bekannten Erstbesteigungen in der Gegend, und ich muss sagen, dass ich einiges an Respekt für diese Menschen verspürte. Ich hatte es gerade mal bis zum Refugio Upsala geschafft, was für die Leute, die aus dem Eisfeld hierher kamen, vermutlich eine Art Himmel auf Erden sein musste nach den Tagen oder Wochen im Eis. Am nächsten Tag brachte ich es nicht über mich, bis nachmittags um drei zu warten, wenn die Leute der Estancia wieder vorbeischauen würden. Ich musste…
Am Fluss angekommen entschied ich mich, erst eine Probedurchwatung zu machen, ohne Rucksack, um die Stärke der Strömung und die Tiefe des Flusses kennenzulernen. Die Strömung war stark, und überall lagen grosse Steine mitten im Wasser, über die man hinwegsteigen musste. Das Wasser reichte bis zur Hüfte, so dass die Sachen nicht nass werden würden. Ich watete zurück zum Rucksack, und weil das Ganze eh schon bekloppt genug war, entschloss ich mich, mit dem Selbstauslöser ein Foto der Szene zu schiessen. Doch die Kamera hatte einen Timer von maximal dreissig Sekunden, so dass ich mich ziemlich beeilen musste, ins Bild zu waten, nachdem ich den Auslöser gedrückt hatte. Nach ein paar Beinahe-Ausrutschern war ich endlich drüben angekommen und setzte den Rucksack ab. Nun musste ich aber wieder zurück ans andere Ufer, um die Kamera zu holen. Meine Beine waren schon ziemlich taub von der Kälte des Gletscherwassers, als ich auch das schlussendlich erledigt hatte. Ich hatte den Fluss sechsmal durchwatet und erstmal genug davon. Ich schaute mir das Foto an: da war ein Fluss zu sehen mit Steinen und Bäumen, alles wunderschön, doch von mir selber war weit und breit nichts zu sehen. Ich war zu früh oder zu spät durch das Bild gewatet. Doch die Erleichterung, diese Herausforderung gepackt zu haben, überwog, und ich machte mich auf zum Eingang des Tales am Ostufer der Laguna Anita, deren Abfluss ich gerade durchquert hatte. Dort angekommen entdeckte ich etwas, was eigentlich nur von anderen Wanderern hinterlassen worden sein konnte. Denn diese Anhäufung von Zweigen und Steinen im sandigen Flussufer, auf die ich dort hinabblickte, hatte die auffallende Form eines Pfeiles. Und dieser Pfeil zeigte ans andere Flussufer. Schon wieder ins Wasser? Wenn es irgendwie ging, wollte ich das vermeiden und erkundete erstmal ein wenig die Gegend flussaufwärts. Tatsächlich schien meine Seite die schwierigere zu sein, doch nicht unmachbar. Und ich wollte lieber über ein paar Felsen klettern, als mir nochmals die Füsse nasszumachen. Das Vorwärtskommen war sehr schwierig, und ich erinnerte…
Ich kletterte hinauf, bis es nicht mehr weiterging. Ich schaute mich um: vor mir schoss das Wasser mit hoher Geschwindigkeit über ein paar flache Felsen, um danach mehrere Meter in die Tiefe zu stürzen. Einfach weiter am Ufer hinaufklettern konnte ich nicht, da ein tiefes Becken mir den Weg versperrte, dahinter ragte steil die Felswand auf. Würde ich also durch dieses wild hinabschiessende Wasser waten müssen? Allein der Gedanke verursachte mir Gänsehaut. Das gegenüberliegende Ufer war etwa fünf Meter entfernt, doch dazwischen gab es nichts, woran ich mich hätte festhalten können. Ich setzte den Rucksack ab, zog Jacke und Schuhe aus und machte vorsichtig einen Schritt vorwärts. Das Ganze schien mir einem Roulettespiel zu gleichen, allerdings mit drei Kugeln anstatt einer. Würde ich den Halt verlieren, was mir ziemlich warscheinlich schien, würde ich über die Kante des Felsens gespült werden und mehrere Meter in die Tiefe fallen. Dort unten schoss das Wasser genauso wild dahin, um danach über eine weitere Stufe zu fallen. Das Ganze glich einem Albtraum. Aber ich musste hier durch! Wo sonst führte ein Weg? Das Tal, das ich hinaufgekommen war, fiel zu beiden Seiten fast senkrecht ab. Nur am Anfang, vielleicht zwei Stunden zuvor, hatte ich eine Stelle am anderen Flussufer bemerkt, die über eine steile Böschung hinauf über die Felsen führte. Offenbar hatte ich die richtige Abzweigung verpasst, denn ohne weitere Ausrüstung, zumindest einem starken Bergsteigerseil, diesen steilen Wildbach zu durchqueren, schien mir ein Spiel mit dem Tod. Doch zwei Stunden zurücklatschen? Niemals. Also musste ich einen Weg finden. Ich hangelte mich an den Felsen vorbei an dem tiefen Wasserbecken, doch dahinter verschwand mein Trekkingstock vollständig in den Fluten, als ich die Tiefe Flusses damit prüfen wollte. Also wieder zurück. Unten am Fluss, wo das Wasser wieder ruhiger floss, war die Felswand so steil, dass ich ohne zu fliegen nicht hinaufkommen würde. Eine Stufe weiter oben rückten die Felsen näher zusammen, doch dort schoss das Wasser mit einer solchen Gewalt dahin und war so tief,…
Nach zwei Stunden überwand ich mich, stellte den stummen Kampf mit dem Wasserfall ein und ging einige hundert Meter in meinen Fußstapfen zurück. An einer besonders engen Stelle überquerte ich den Fluss, kletterte anschließend die Böschung hinauf und kroch auf einem kaum zwei Meter breiten, mit Gras bewachsenen Stück über den steilen Abgrund hinweg. Ich markierte den Ort mit einem kleinen Steinhaufen, um anderen Wanderern den Weg zu erleichtern. Als ich lagerte, fand ich alte Kochtöpfe und Glasflaschen unter den Bäumen verteilt. Wer war hier durchgekommen, seine Kochutensilien in der Gegend verstreuend? Am folgenden Tag marschierte ich am Südfuß des Cerro Norte durch ein langgezogenes Tal. Bald sah ich vor mir eine Wand aus Stein aufragen, als sei ein riesiger Teil der Bergflanke in einer gewaltigen Lawine hinabgekommen. Die Wand ragte fast bis in die Mitte des Tales, wo sich ein kleiner Fluss schlängelte. Nachdem ich die haushohe Geröllwand erklommen hatte, sah ich, dass sie den Rand eines natürlichen Beckens bildete, angefüllt bis oben hin mit eiskaltem Wasser. Den Gletscher konnte man von unten nicht sehen, weshalb sein Anblick umso überraschender war. Ich fotografierte die bizarren Eisformen der Gletscherzunge, die wie das Rückgrat eines riesigen urweltlichen Tieres in die Höhe ragte. Gegen Abend hatte ich den nördlichen Teil des Tales erreicht. Kleine, klare Seen säumten meinen Weg, ohne einen einzigen Fisch. Der Wundersee, von dem Mariano erzählt hatte, musste woanders liegen. Ich lagerte vor einem riesigen Felsdom, dessen Spitze hoch oben in den Nebeln verschwand. In der Nacht wechselte die Windrichtung, und heftige Böen versuchten, mein Außenzelt fortzureißen, das sich aufblähte wie ein Fallschirm. Kurz vor dem Ende des Tales sah ich am kommenden Morgen zu meiner Überraschung Stiefelspuren im lehmigen Boden. Ich folgte ihnen und entdeckte ein abgebautes Lager, das so verstaut war, dass es jederzeit wieder errichtet werden konnte.
Wer trieb sich hier herum und benötigte dazu ein Nachtlager? Denn es gab nichts, außer der szenischen Schönheit der Landschaft, was die Anstrengungen gerechtfertigt hätte. Woher kam der Unbekannte? Zur Estancia Christina war es mehr als ein Tagesmarsch, und vor mir lag ein steiler Abstieg und nach einem weiteren vollen Tagesmarsch, eine einzelne Estancia. Die Spuren waren noch sehr frisch, so dass jemand vor kurzem hier gewesen sein musste. Bei einem langen und anstrengenden Abstieg durch ein Geröllfeld verlor ich meinen Wanderstock, der glatt in der Mitte durchknickte, als ich das Gleichgewicht verlor und nach vorne fiel. Anschließend erreichte ich einen langen, in einem natürlichen Halbrund verlaufenden Abhang, im Hintergrund türmten sich die Fjorde und unpassierbaren Berge im Westen des Lago Viedma auf. Vor mir, aber auf der anderen Seite des Abhangs, lag der See. Mein Magen sehnte sich nach zarten Forellenfleisch, ich stürmte hinab ins Tal, ohne an die Warnung des Guides zu denken. Da in der Gegend schon sehr lange keine Kühe mehr gegrast hatten, war im unteren Bereich des Abhanges eine Art Wildwuchs an verschiedenen Sträuchern enstanden, etwa mannshoch und dicht beieinander stehend. Man hatte mir empfohlen, den weiten Umweg über die oberen Hänge zu nehmen, wo es zu steil war und die Sträucher keine Wurzeln schlagen konnten. So rannte ich praktisch ungebremst in die Vegetation hinein, nur um zu merken, dass es nach wenigen Schritten nicht mehr weiterging. Ich zog die Machete und hieb auf die Büsche ein, die nachgiebig und schwer zu durchschlagen waren, so dass ich es bald wieder aufgeben musste. Es blieb mir nichts übrig, als mich fluchend und schweißüberströmt durch das dichte und dornige Strauchwerk hindurchzuzwängen. Zerkratzt und erschöpft stand ich am Ufer des Sees. An einer windgeschützten Stelle baute ich mein Lager auf und erforschte mit meiner Angeldose den so oft erwähnten Mythos. Ich wurde nicht enttäuscht. Jeder Auswurf des Köders war ein Fang, und ich verspeiste an diesem und dem folgenden Tag ein gutes Dutzend Forellen, deren Fleisch manchmal weiß,…

Kapitel 7
Am Lago Viedma

Es gab keine geeigneten Orte zum Zelten außer nahe am Ufer, wo sich zwischen den Büschen etwas Schutz vor dem Wind bot. Das einzige Wasser war das des Sees, milchig und voller Sedimente. Nachdem ich das südliche Ufer mühevoll hinter mich gebracht hatte, musste ich viele Kilometer auf der asphaltierten Ruta 40 zurücklegen, bevor ich wieder nach Westen einbog auf die Straße, die nach El Chalten führt, der selbsternannten Trekking-Hauptstadt. Mein Ziel war das kontinentale Eisfeld. Schon in Deutschland war klar gewesen, dass es einer der Höhepunkte meiner Patagonien-Durchquerung werden sollte. Ich wollte einige Nächte auf der weiten, schneebedeckten Ebene verbringen, hatte jedoch kaum weitere Informationen dazu. Ich passierte einen „Gauchito“, eine Art Gedenkstätte für den Volksheiligen Gauchito Chil, einen Argentinier des 19. Jahrhunderts. Wenige Kilometer später sah ich jemanden im Staub neben der Straße sitzen. Es war Xavier aus Belgien. Er pflegte am Straßenrand zu pausieren, auf seiner mit Flicken versehenen Therm-a-rest ruhend, neben sich die Thermosflasche mit dem Wasser für den Mate. Wie ein richtiger Argentinier war er versessen auf das Getränk, zudem hatte er in seiner Radtasche immer einen großen Topf voller Dulce de Leche dabei, einem melasseartigen Brotaufstrich. Xavier war sehr sparsam unterwegs, vielleicht sogar extrem sparsam. „Schau her“, sagte er und zeigte mir ein kleines Stück Seife, „seit einem Monat wasche ich mich damit, und meine Wäsche!“. Abends hatte er kein Zelt zur Verfügung, daher drehte er einfach sein Fahrrad auf den Kopf und spannte einen Militärponcho darüber, das bot ihm in seinem Schlafsack genügend Schutz, zumal es in der Gegend eher selten regnete. Diese Bekanntschaft war eine willkommene Abwechslung nach den öden Stunden und Tagen entlang des Seeufers, und wir gingen eine Weile gemeinsam auf der Straße. Er hatte eine Angelrolle in einer seiner Taschen und suchte nach einer Angelrute, um fischen zu können. Er war begeistert, als ich ihm die Angeldose aus Feuerland zeigte und gleich am Rand der Straße ihre Verwendung erklärte, wobei wir annahmen, der Asphalt sei ein Fluss. Schließlich fuhr…
El Chalten war auf Touristen eingestellt. Überall boten „Guias“, Führer mit Ortskenntnis, einen Ausflug auf das Eisfeld an. Der Preis betrug viele hundert Dollar für eine dreitägige Exkursion. Ich war mir nicht im Klaren darüber gewesen, wie schwierig der Aufstieg und wie riskant der Marsch auf dem Schneefeld war, wenn man weder Ortskenntnis noch die entprechende Spezialausrüstung hatte. Auf dem freien Campingplatz am Ende der Ortschaft schwitzte ich meine Erkältung aus und versuchte, mir einen Plan zu überlegen. Xavier war ebenfalls angekommen, gut gelaunt flirtete er mit allem, was zwei Beine und Brüste hatte. Ich fühlte mich zunehmend niedergeschlagen. In einem Sportgeschäft lief ich einem etwa dreißigjährigen Argentinier über den Weg, der einem kürzlichen Bekannten verblüffend ähnlich sah. Er grinste breit, als ich ihn unvermittelt fragte, ob er einen Bruder namens Mariano hatte. Er war der Besitzer des Ladens und freute sich, von ihm zu hören. Wie nicht wenige der hiesigen Argentinier schien er eine gewisse Antipathie für die ausländischen Besucher zu haben, die er nur schwer verbergen konnte. Diese brachten Geld und ermöglichten somit ein gutes Auskommen in dem krisengebeutelten Land. Doch für die Menschen blieben sie Gringos. Vielleicht kollidierte auch das Auftreten mancher westlicher Touristengruppen mit dem südamerikanischen Stolz. Mein Marsch entlang des Cerro Norte imponierte ihm, und er war mir gegenüber sehr freundlich. Mein Vorhaben, auf dem Eisfeld zu übernachten, erhielt den Todesstoß, als ich erfuhr, dass die Jahreszeit bereits zu weit fortgeschritten war. Gegen Ende des Frühlings taute der Schnee, und übrig blieb eine wenig anschauliche, graue oder braune Ebene aus Matsch und Geröll. Ich hatte diesem Erlebnis ein halbes Jahr entgegengefiebert, und es war ein harter Schlag. Ich hatte in Feuerland und Patagonien Tage und Wochen für weite Umwege verwendet, und dabei die meisten wirklich interessanten Orte entdeckt. Mein Pech mit dem Eisfeld warf daher ein seltsames Licht auf die Zukunft, auf meinen Weitermarsch. Ich begann bereits in El Chalten, langsam Abschied zu nehmen von Patagonien. Meine eigene Sturheit befahl mir aber, den Aufstieg zum…
Nur widerwillig ließen sie mich gehen. Im Ausrüstungsladen erklärte man mir notdürftig die Verwendung des Steiggurtes, der bei der Überquerung einer Schlucht benötigt wurde. Ich wählte den Weg am Paso del Viento, einen Tagesmarsch von El Chalten entfernt. Dort angekommen, baute ich mein Zelt in dem Basislager auf und begann, nach dem Ort zu suchen, wo das Drahtseil über die Schlucht führte. In der Nacht zuvor war eine Anzahl von jungen Männern aus der Gegend angekommen. Sie hatten damit begonnen, Vorräte für eine amerikanische Wandergruppe hinaufzutragen, welche am kommenden Tag – ohne lästiges Gewicht auf den Schultern – in der Gegend wandern wollte. „Por los Gringos“, sagte einer von ihnen – sie waren in ihrem Stolz verletzt. Ich bekam von ihnen einen Gaskocher ausgeliehen, da mein Benzinkocher den Geist aufgegeben hatte. Am kommenden Morgen kletterte ich in den Felsen herum, ohne den richtigen Weg zu finden. Ein aufgepeitschter Bach schoß unter mir dahin, und ich wagte mich auf dem rutschigen Fels auf winzigen Vorsprüngen weit hinaus und wäre bei einem Ausrutscher mitten im Wasser gelandet. Ich fand den Übergang nie. Irgendwann erkannte auch mein Dickschädel, dass es kein Weiterkommen gab. Ich hätte nicht nur den Ort, sondern auch die Ausrüstung besser kennen müssen. Ich gab es auf und ging zurück zum Lager. Ich ließ das Eisfeld und den Wunsch, es zu sehen, hinter mir, schulterte meinen Rucksack und stieg hinab durch den Sprühregen nach El Chalten. Ganz leicht schritt ich dahin. Ich war gescheitert, doch fühlte ich mich gleichzeitig befreit von einer Last. Es war gut, El Chalten zu verlassen. Xavier war schon ein paar Tage vorher Richtung Norden weitergefahren, mein eigener Weg führte mich zunächst zurück auf die Ruta 23 und dann noch Nordosten, über die Berge an den Lago San Martin. In diesen Bergen war in den höheren Lagen praktisch keine Vegetation, und kaum Plätze zum Lagern. Ich musste mit meinen Füßen in einem Geröllfeld eine kleine Fläche austreten, um dort die Nacht zu verbringen. Den Flusstälern folgend…
Die erste Nacht auf dem Weg zur Hochebene verbrachte ich in einem verlassenen Puesto. Kleine Mäuse ließen mich nicht schlafen und erreichten auch die unmöglichsten Stellen, wo ich meine Ausrüstung aufgehängt hatte. Aus Wut sprang ich auf und versetzte einer der Mäuse einen kleinen Schlag – mit einem Quietschen warf sie sich auf den Rücken, zuckte ein letztes Mal und hauchte ihr Mäuseleben aus. Ich hatte eine Maus getötet, mein Karma war beschädigt. Ich entsorgte sie vor der Haustür. Tags darauf wanderte ich über die weiten, von Wind und Erosion ausgeschliffenen Bergrücken. Erst am Abend des darauffolgenden Tages war ich auf der Höhe des Gebirges angekommen. Zwei Wege gab es, nach Nordwesten auf einer Piste hinab zur Estancia Rio Narvarez, nach Osten ging es hinein in das Schneegestöber der Meseta de la Muerte. Ich war mir unsicher, der lange Aufstieg hatte mir die Lust auf weitere Abenteuer etwas genommen. Wie um mir bei der Entscheidung zu helfen, ergriff eine Fallbö die orangene Regenhülle meines Rucksackes und trug sie in Richtung der Hochebene davon. Ich brauchte diesen Regenschutz in einer Gegend mit nächtlichen Temperaturen unterhalb des Nullpunktes. Ich rannte hinterher, er flog einen Abhang hinab. Unten blieb er liegen, ein orangener Fleck in der düsteren Umgebung, ein Stück Plastik und doch so wertvoll. Ich nahm das Ereignis als Zeichen, überwand mich und begann den Marsch nach Nordosten. Da es bereits später Abend geworden war, brauchte ich einen Platz, wo ich mein Lager aufschlagen konnte. Es blies ein steter Westwind mit großer Stärke, um mich herum waren nur flache Hügel. Der Boden war ein ungewöhnlicher Steinsumpf: eine Schicht von ockerfarbenem Geröll und darunter ein mit Wasser vollgesogener, lehmiger Untergrund. Bei jedem Schritt versank man bis zum Knöchel in den nachgiebigen Steinmassen, und es war unmöglich, auf einer solchen Erde zu lagern. Schließlich, etwa eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, fand ich ein kleines, festes Stück Boden, das dem Wind jedoch vollkommen ausgesetzt war. Ich verankerte das Zelt mit schweren Steinen am Boden,…
Ich benötigte meinen Kompass und meine topographischen Karten mehr denn je, um tagsüber meinen Weg durch die Hochebene zu finden. Niedrige Wolken zogen dicht über meinem Kopf dahin, hin und wieder die Sicht auf steinige Hügel und karge Felsen, soweit das Auge reichte. Keine einzige noch so kleine Pflanze, der Boden war von Rinnsalen durchzogen. Es war wie in einer anderen Welt mit eigenen Gesetzen. Ich lernte, wie wichtig es ist, einem eingeschlagenen Kurs zu folgen. Ich umging Hindernisse, anstatt genau entlang der Kompassnadel zu marschieren. Stunde um Stunde kam ich dadurch mehr vom Kurs ab. Auf einmal stand ich unmittelbar vor einem steilen Abhang, vor mir nichts als windzerzauste und karge Steinwüste. Unten angekommen, machte ich eine kleine Rast und überlegte. Ich hätte längst die Ausläufer der Meseta erreichen müssen. Beim Nachdenken über meine Marschrichtung und beim Vergleichen mit der Karte fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag nach Nordosten anstatt nach Norden gegangen war. Hügel um Hügel hatte ich bequem umgangen, bis die kleinen Fehler und Bequemlichkeiten zu einem einzigen großen Irrtum geworden waren. Es war später Nachmittag und ich musste dringend einen Ort für die Nacht finden. Ich stand auf sumpfigem Boden inmitten einer weiten Ebene ohne Schutz vor dem Wind, schwarze Wolken kündigten stürmisches Wetter an. In einer halben Stunde würde es dunkel sein. In der Ferne konnte ich einen kegelförmigen Hügel sehen, den ich unter normalen Umständen nie als Lagerplatz in Betracht gezogen hätte. Dazu waren seine Hänge zu steil, und er bot keinen Schutz vor dem anrückenden Sturm. Aus Mangel an anderen Möglichkeiten entschloss ich mich, dort zu übernachten. Er bestand aus schwarzem Gestein, das von losem Geröll und Sand bedeckt war. Diese Schicht war jedoch nicht tief genug, um den Heringen einen festen Halt zu geben. Ich suchte mehrere schwere Steine zusammen und befestigte damit mein Zelt, so gut es ging. Die waagrechte Plattform, die ich in den Hang getrampelt hatte, war gerade groß genug. Sie lag auf der Seite, die dem…

Kapitel 8
Zu Besuch bei Gauchos

Nach Norden fiel die Hochebene allmählich in die Pampa ab. Eine Straße verband das Archipel im Westen mit der Ruta 40 im Osten. Auf diese Straße marschierte ich zu. Infolge der Anstrengungen entschloss ich mich, an einem windgeschützten Flussufer zu rasten. Normalerweise hatte ich an Ruhetagen nicht genug Zeit, um alles zu tun, was ich wollte. Lesen, die Ausrüstung ausbessern, meinen Spanisch-Wortschatz erweitern, Angeln, Ausruhen, laufend Essen kochen, in die Ferne blicken und nachdenken, die Umgebung erkunden. Ein halbes Jahr war vergangen, und allmählich begann ich, meine Beschäftigungen als Routine zu empfinden. Ich begann, mich zu langweilen. Nicht nur der Herbst schien sich dem Ende zuzuneigen, sondern auch meine Zeit in Patagonien. Ich hatte wegen den vielen Umwegen erst die Hälfte der Distanz geschafft. Teile meiner Ausrüstung, vor allem meine wind- und dornenfeste Jacke, begannen Abnutzungserscheinungen zu zeigen. Meine Bundeswehrhose hing mir schon seit Wochen in Fetzen vom Leibe, zusammengehalten von Klebeband. Ich musste von nun an zügiger vorankommen und das größere Ziel im Auge behalten: die Durchquerung Patagoniens bis zum Rio Negro. Am nächsten Tag, nach einer kleinen Pause bei einem freundlichen Gaucho in der nahen Estancia, folgte ich einem Flussbett nach Norden. Zu meiner Linken sah ich zwei Gehöfte, an denen ich vorbeimarschierte, ohne mich aufzuhalten. Zwei Gauchos kamen mir nachgeritten. Bald hatten sie mich eingeholt und stiegen vor mir ab, schüttelten meine Hand. „Du marschierst sehr schnell“, sagte der eine. Die Pferde gingen mit einem Schritt von etwa sechs Kilometern die Stunde, ich schaffte fünf. Normalerweise legte ich auf einer guten Piste dreißig Kilometer am Tag zurück. Ich war erfreut über die respektvolle Behandlung; dass ein Gaucho von seinem Pferd steigt, um einen Fremden zu begrüßen, war ungewöhnlich. Die beiden luden mich zum Mittagessen in ihren Puesto ein. Sie hatten eine größere Anzahl von Pferden dabei. Als ich beim Puesto ankam, war die Herde im Korral untergebracht. Ich wurde freundlich empfangen und zur traditionellen Mahlzeit eingeladen, großen Stücken Rindfleisch mit in Öl frittiertem Brot als Beilage. Zur…
Nach der Mahlzeit drehten wir uns Zigaretten, und sie erzählten mir von den Pumas, die in der Gegend noch nicht ausgerottet waren. Üblicherweise wurden sie gejagt und mit dem Revolver getötet. Dazu tischten sie mir Schauermärchen auf: „Zuerst“ sagten sie, „frißt ein Puma deine Eier, wenn er dich erwischt.“ Ich nahm diese Information entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Anschließend drehte ich einen kleinen Film von der Szenerie im Inneren des Puestos. Ihre Scheuheit war sehr groß. Der Gaucho, der schon die Nudeln verschmäht hatte, verließ geniert die Hütte, während ich mit der Kamera einen Schwenk vollführte und den kleinen Raum abfilmte. Als ich mir das Filmchen anschließend anschaute, übermannte sie die Neugierde. Gerade hatten sie sich noch gewunden und geschämt, nun lachten sie über ihre eigenen betretenen Gesichter. „Buena camera“, sie nickten anerkennend. Die Pferde im Korral gehörten dem Verschämten. Er war ein großer, hagerer Kerl mit Schnauzbart und roten Haaren, die er mit einer Boina, dem typischen Hut der Gauchos, bedeckte. Er schien etwas melancholisch zu sein. Offensichtlich war er mit seinem gesamten Hab und Gut unterwegs, um neue Arbeit zu finden. Ob sie zusammen auf der nahen Estancia gearbeitet hatten, oder ob er schon seit längerem durch die Gegend zog, erfuhr ich nicht. Er wies mir einen Weg über die Hügel nach Norden, der kürzer war als die Piste. Schließlich bedankte ich mich bei den beiden, schüttelte ihre Hände zum Abschied und marschierte weiter. Ich erinnere mich nicht mehr an den Weg, den ich einschlug. Nach einem Tag erreichte ich eine Estancia und ließ mich dazu überreden, den restlichen Nachmittag und die Nacht dort zu verbringen. Geselligkeit gegen eine Mahlzeit. Es gab meist nur wenig Gesprächsstoff, die Welt des Gauchos waren seine Tiere, das Wetter, seine Arbeit, die sich nach der Jahreszeit richtete, und die spärlichen Ereignisse im Umland. Wenn ich von meinem Marsch erzählte, erhielt ich kaum Reaktionen. Vielleicht fanden sie es unverständlich, oder sie glaubten mir nicht. An langen Abenden, bei wenig neuen Ereignissen,…
Am nächsten Tag musste ich einen steilen Abhang erklimmen. Mein Gastgeber war vorausgeritten und zeigte mir den Weg. Er deutete auf zwei nahe beieinander liegende Hügel in etwa einem Tagesmarsch Entfernung. Jenseits der Hügel lag eine verlassene Estancia, wo ich die Nacht verbringen konnte. Von dort führte eine Piste in etwa zwei Tagesmärschen nach Osten zur Ruta 40, der ich weiter nach Norden folgen wollte. Es war ein weiterer Umweg, doch der direkte Weg nach Norden, über das Gebirge, schien mir zu unwegsam. Der Gaucho warnte mich noch, dass es in der Gegend vor mir Pumas gab. Unter einem bewölkten Himmel marschierte ich durch die Ebene und hatte die Hügel gegen Abend erreicht. Ich musste zwischen ihnen hindurchmarschieren, um zu der verlassenen Estancia zu gelangen. Mein Blick streifte die oberen Hänge, wo es dunkle Felsen gab. Eine unheimliche Stille lag über dem Ort. Als ich den Fuß des östlichen Hügels schließlich umrundet hatte, sah ich die Estancia. Sie lag, an einen flachen Hang gekauert, dunkel und verwahrlost da. Im wogenden Gras, einige hundert Meter von den Gebäuden entfernt, entdeckte ich zwei Gräber. Geschichten schienen mit jenen Gräbern und dem verlassenen Gehöft verknüpft zu sein, und waren vielleicht bald ganz vergessen. Es wurde rasch dunkel und ein starker Wind kam auf. Zu meiner Überraschung war das Hauptgebäude abgesperrt. Die Fenster waren verglast und innen wirkte alles aufgeräumt, so als könnten die Menschen jederzeit zurückkehren. Der Boden im Hof war voller Laub, mehrere umgestürzte Stühle, ein alter Brunnen. Der Wind schüttelte die alten Bäume durch, alles war dunkel und verlassen. Ein einfacher Bau schien die Unterkunft der Gauchos gewesen zu sein, eine einzelne unverschlossene Tür führte mich in einen Schlafraum. Der Boden war mit Gerümpel und Papierfetzen übersäht, an der Wand lehnte ein Bettgestell mit Sprungfedern. Ich verriegelte die Tür von innen und breitete meinen Schlafsack aus. Irgendwo schlug ein Fensterrahmen. Ich schaute mir die Hinterlassenschaften in dem Zimmer genauer an und entdeckte einen Comic. Der Gaucho musste ihn zurückgelassen haben, zusammen…
Sie handelte von einem muskelbepackten Kerl, der in zerfetzten Kleidern unsagbare Abenteuer erlebte. Die Geschichte hieß „Der alte Krieger“. Mitten in der Wildnis eines unbekannten Landes traf dieser Held auf einen Menschen, der in großer Eile flüchtete. Die Soldaten des alten Königs waren ihm auf den Fersen für ein Unrecht, das er nicht begangen hatte. Fingen sie ihn ein, so würden sie ihn töten. Dies war eine Situation wie maßgeschneidert für den Helden, der zwar etwas schwerfällig wirkte, aber offenbar einen starken Sinn für Gerechtigkeit besaß. Er half dem Verfolgten bei seiner Flucht. Unterwegs trafen sie einen alten Veteranen mit einer Augenklappe, der sich ihnen ebenfalls anschloss. Irgendwann hatten sie das Ende des Weges erreicht, vor ihnen ein steiler Abgrund, die Häscher der Königs ganz nah. Wahnsinn in den Augen, riss sich der Flüchtende das Hemd vom Leibe, und zu Boden fielen kostbare Schmuckstücke, die er darunter versteckt hatte. „Alles mein!“, schrie er, „Helft mir zu entkommen, und wir sind reich!“ Da richtete der alte Soldat das Wort an ihn: „Diesen Schmuck hast du der Königin geraubt, und sie dabei ermordet. Daher jagen dich die Männer des Königs!“ Sprach’s, zog sein Schwert und schnitt dem Räuber, dessen Gesicht eine Fratze des Schreckens war, die Kehle durch. Zum Helden gewandt, sprach er folgendes: „Du fragst dich, woher ich all dies weiß. Nun, ich selbst bin der König. Ich habe mich als einfacher Soldat verkleidet und bin meinen Männern vorausgeeilt, um den Mörder meiner Gemahlin selber zur Strecke zu bringen. Erst jetzt konnte ich sicher sein, dass er wirklich dieser Kerl hier gewesen war.“ Dies schien dem Helden einzuleuchten, und er war zufrieden. Gerechtigkeit war getan! Etwas schwerfällig ging er davon, neuen Abenteuern entgegen. Ich legte das Heft beiseite. Die Geschichte hatte mich völlig in ihren Bann gezogen. Trivial wie sie war, hatte sie an dem verlassenen Ort eine Intensität entwickelt wie ein unsterbliches Stück Weltliteratur. Ich knipste das Licht aus und schaute auf die verschlossene Tür. Würde sie mitten in der…
Früh morgens stand ich auf der Piste, welche zur im Osten liegenden Ruta 40 führte. Ich marschierte los. Der Wind war so stark geworden, dass ich Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Heftige Böen kamen von der Seite, so dass mein Rucksack und ich, eine Einheit von rund hundert Kilo, von einer Seite der Piste zur anderen taumelten wie ein Schluckspecht auf dem Nachhauseweg. Abend erreichte ich ein kleines Tal, das Schutz vor dem Wind versprach. Ich fand sogar Unterkunft in einer Estancia, wo ein alter Gaucho lebte. Wir unterhielten uns bis spät abends, bevor er mir am nächsten Morgen den Verlauf der Piste über sein Grundstück zeigte. Nach einem erneuten Tag des Taumelns und Fluchens im Wind erreichte ich die Ruta 40. Es gab nichts als ein einzelnes kleines Grundstück, darauf eine Bar, und der Wirt freute sich über etwas Gesellschaft. Mein Plan war es jedoch, auf der Ruta 41 nach Westen zu wandern. Dazu wollte ich den Bus ein Stück weit nach Norden nehmen, anschließend über die Berge an den Lago Buenos Aires gelangen. Der letzte Teil dieser Ruta 41 war berühmt-berüchtigt und bei schlechtem Wetter nur mit einem Geländewagen zu überwinden. „Der Bus kommt erst später“, sagte der Wirt, „komm derweil hinein, ich gebe dir einen Kaffee aus“. Diese Einladung konnte ich schlecht ausschlagen, wollte ich nicht draußen im Wind an der öden Straße herumlungern. Kaum stand ich am Tresen und nahm den ersten Schluck, hörte ich draußen die Dieselmotoren eines großen Fahrzeuges näher kommen und schaffte es gerade noch bis zum Fenster, um den Bus vorbeifahren zu sehen. Es war der einzige Bus an diesem Tag. „Nun ist er doch schon früher gekommen“, sagte der Wirt, dem man die Überraschung fast hätte glauben können – er hatte durch seine kleine Finte einen Gesprächspartner für den Abend gewonnen. Am Ende war ich froh darüber. Der Wirt war ein kleiner, untersetzter Argentinier in seinen mittleren oder späten Vierzigern, mit einem freundlichen Lachen und einer großen Gesprächigkeit. Zum Abendessen…

Kapitel 9
An den Lago Buenos Aires

Wie ich meinen Weg am nächsten Tag fortsetzte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an Baufahrzeuge, Staub, endloses Dahingehen. Schnurgerade zieht sich die Straße durch die wüstenartige Landschaft. Vielleicht bin ich sogar ein Stück per Anhalter gefahren. Meine Erinnerungen setzen erst wieder in Bajo Caracoles ein, einem kleinen Nest in der Pampa, nicht mehr als ein paar Häuser an der Kreuzung der Nationalstraßen 40 und 39. Alles war geschlossen, ich benötigte jedoch Bargeld, da ich seit Wochen keinen Bankautomaten mehr gesehen hatte. Die Ruta 39 kam von Nordosten und führte nach Westen an den Lago Posadas. Dazwischen lagen 70 Kilometer menschenleere, wasserlose, windgepeitschte Pampa. Da ich dabei keinen einzigen Meter weiter nach Norden kam, entschloss ich mich, die Strecke per Anhalter zurückzulegen. Es war kaum Verkehr auf der Straße, daher machte ich mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Doch der erste Geländewagen, der kurze Zeit später vorbeikam, hielt an und nahm mich mit nach Ipolito Yrigoyen, ehemals Lago Posadas. Es war eine kleine, am Reißbrett entworfene Ortschaft unweit des Sees. Pappelalleen, menschenleere Straßen, hier und da trollte sich ein Hund. Die zwei Ingenieure, in deren Auto ich mitgefahren war, hatten mir von einem seltsamen Deutschen erzählt, der eine Estancia am Ortsausgang bewohnte. Offenbar hatte diese Person Schwierigkeiten familiärer oder persönlicher Art, das Grundstück soll von seinem Vater erworben worden sein. Ich hatte noch genügend Vorräte in meinem Rucksack, um den Lago Buenos Aires erreichen zu können, ein Marsch von etwa fünf Tagen. Ohne Zeit zu verlieren ging ich auf der Ruta 39 aus dem Ort hinaus, Richtung See. Unterwegs wurde ich von einer Polizeistreife in Zivil aufgefordert, meine Papiere zu zeigen. Meine zerrissenen Hosen mögen nicht den besten Eindruck hinterlassen haben. Ich bat sie, mir zuerst ihre eigenen Polizeiausweise zu zeigen, denn die Nachrichten aus dem Nachbarland Bolivien hatten mich vorsichtig gemacht. Dort verschwanden hin und wieder ausländische Besucher, entführt von Beamten mit gefälschten Ausweisen. Die Bankkonten der Opfer wurden geplündert, von ihnen selber sah man nie mehr etwas.…
Ein alte, auf meinen topographischen Karten verzeichnete Straße verlief parallel zum Ufer des Sees, jedoch um etwa zehn Kilometer ins Landesinnere versetzt. Nachdem ich die Hügel östlich des Sees durchquert hatte, marschierte ich auf dieser Straße weiter, bis ich bei einer Estancia anlangte, die an einem ausgetrockneten Salzsee lag. Ein Lastwagen mit einer Ladung Holz war gerade angekommen, und da ich mich nach einer Unterkunft erkundigen wollte, packte ich beim Entladen mit an. Anschließend saß ich mit einem alten Gaucho in der Küche, der Lastwagen war weitergefahren, und versuchte mich mit meinem Gegenüber zu unterhalten. Er lächelte in einem fort, aus Höflichkeit und weil er vermutlich etwas schwer hörte, während ich versuchte, ihm meine Reise anhand der Fotos auf meinem Laptop zu veranschaulichen. Ich glaube, dass er bis am Ende nicht recht verstand, was ich ihm demonstrieren wollte, so dass ich mich zeitig in die Unterkünfte der Estancia-Arbeiter zurückzog. Am kommenden Morgen ging ich quer über den Salzsee zu der Piste, die nach Nordwesten durch die Hügel führte, und hatte in kurzer Zeit die Ruta 41 erreicht. Nachdem ich den ganzen Tag marschiert war, erreichte ich gegen Abend einen kleinen See, der unweit der Straße lag. Ich überquerte den schmalen Fluss, der das Gewässer speiste, und warf die Angel aus, um mein Glück zu versuchen. Am anderen Ufer, weniger als hundert Meter von mir entfernt, versuchten zwei Gauchos dasselbe. Schon bald hatte etwas angebissen, ein starker Zug an der Leine, es war eine „Embra“, ein Forellenweibchen mit einem Bauch voller Eier. Vermutlich wäre es waidmännischer gewesen, das Tier wieder ins Wasser zu entlassen, doch mir lief das Wasser im Munde zusammen beim Anblick des stattlichen Fisches, es sollte meine Stärkung werden vor den letzten kräftezehrenden hundert Kilometern bis an den Lago Buenos Aires. Etwas weiter entlang der Piste fand sich die alte Ruine eines einfachen Hauses, dort schlug ich mein Lager auf und entfachte im zunehmenden Regen ein Feuer. Bald war es unmöglich geworden, die Flamme am Leben zu erhalten,…
Die starken Regenfälle kamen sehr ungelegen, da ich über diesen Teil der Ruta 41 abenteuerliche Geschichten gehört hatte. Die Straße führte auf fast 1500 Meter hinauf zum Paso Roballo, einer windverwehten Einöde, um sich anschließend über eine Distanz von etwa zwei Tagesmärschen den Berg hinab zu winden, nach Los Antiguos, einem kleinen Grenzstädchen. Am Morgen regnete es immer noch, und die Piste war zu einer braunen, schmierigen, schlammigen Paste verquollen. Als die Steigung der Straße stark zunahm, rutschte ich bei jedem Schritt, den ich tat, wieder einen halben Meter zurück. Nach einigen Stunden Anstrengung machte ich eine notdürftige Pause im Regen, ich breitete die Plastikplane über mir aus und versuchte, meine Kräfte zu sammeln für den verbleibenden Aufstieg. Ich aß die verbleibende Hälfte des Fisches, welcher ausgezeichnet schmeckte, das er über dem im Regen schwelenden Feuer geräuchert worden war. Meine Schuhe waren schlammverschmiert, die rutschige Piste begann, mir den letzten Nerv zu rauben, als ich die Höhe erreichte, wo der Regen zu Schnee wurde und der Boden gefroren war. Nun war das Gehen deutlich einfacher, und ich erreichte den Paso Roballo und das einsame blaue Straßenschild, das den höchsten Punkt markiert, just bevor es dunkel wurde. Da ich mich in einer sehr unwirtlichen Gegen befand und nirgends eine geschützte Stelle für das Zelt entdecken konnte, entschloss ich mich, mit dem Abstieg zu beginnen, und bei der ersten Gelegenheit das Lager aufzuschlagen. Dies wollte ich noch oberhalb der Schneegrenze tun, um nicht im knöcheltiefen Morast übernachten zu müssen. An einem kleinen gefrorenen Rinnsal, wo die Piste zwei enge Kurven beschrieb, schien mir ein geeigneter Ort zu sein. Eine etwa mannshohe Geröllhalde bot notdürftigen Schutz vor etwaigen Stürmen.
Mein Benzinkocher hatte mir schon seit vielen Wochen Probleme bereitet; winzige Rußpartikel aus dem Treibstoffschlauch verstopften die feine Düse, und auch ein sorgfältiges Säubern aller Teile brachte nur kurze Besserung. Nun, zwei Tage vor dem Ende des Marsches, schien er endgültig den Geist aufgegeben zu haben. Ich war in einem kalten und windigen Gebirge, die Temperatur war unter dem Gefrierpunkt, daher war ich auf eine warme Mahlzeit angewiesen, um Nachts die nötigen Kräfte zurückzugewinnen. Ich musste improvisieren, also vergrub ich eine Konservenbüchse halb im Boden, füllte sie mit dem verbliebenen Benzin und brachte das Wasser darüber zum Kochen. Das Problem war, dass ich dies in der Apside meines Zeltes tun musste, da der Wind zu stark geworden war, um im Freien zu kochen. Die stark rußenden Flammen züngelten zentimeterhoch am Kochtopf empor, und eine einzelne Stichflamme hätte genügt, um mein Außenzelt lichterloh brennen zu lassen. Ich versuchte, das Material, das der Flamme am nächsten war, mit meinem Kochlappen zu schützen. So schaffte ich es trotz aller Widrigkeiten, das Wasser zum Kochen und die Nudeln gar zu bekommen. Ich hatte gegessen und löschte das Licht, zog mir den Schlafsack bis übers Kinn. Zum ersten Mal in jenem halben Jahr, seit ich in Ushuaia losmarschiert war, fror ich in jener Nacht in meinem Zelt. Wie ich gerade mein Frühstück zu mir nehmen wollte, hörte ich ein Hupen von der Straße. Der alte Lastwagen, den zu entladen ich neulich geholfen hatte, quälte sich durch die engen Kurven talabwärts, am Steuer die fröhlich winkenden Arbeiter. Offenbar waren sie auf der gefrorenen Piste den Berg hinaufgekommen, um nun auf dieser Seite eine neue Ladung Holz zu holen. Vor mir lagen noch siebzig Kilometer, nur wenige Estancias gab es in dieser Gegend. Den gesamten Tag ging ich hinab, wobei die Straße meist dem Lauf des Flusses folgte.
Am Abend hatte ich eine Kreuzung erreicht, ein Gauchito säumte den Wegesrand. Eine kleine grüne Wiese war davor. Ich konnte jedoch auch weitergehen und auf einer nahen Estancia um Unterkunft bitten. Ich entschloss mich für letzteres, ein deutliches Zeichen dafür, dass mein Komfortbedürfnis bedenkliche Ausmaße angenommen hatte. Nach der traditionellen Mahlzeit, bei der ich den Ehrenplatz am Kopfende des Tisches zugewiesen bekommen hatte, und die wie gewohnt aus Fleisch und sonst nichts bestand, übernachtete ich in der nahen Scheune. Morgends kam ich an den Gauchos vorbei, die sich auf ihren Pferden zu einem weiteren Tag Arbeit bereit machten. Zwar war es nichts als Routine für sie, der Alltag der argentinischen Berge und der Pampa; doch der Anblick der Pferde, des ledernen Sattelzeugs und der windgegerbten Gesichter war allemal erträglicher als eine Gruppe von Pendlern sechs Uhr morgens an der Bushaltestelle einer Großstadt. Die verbliebenen vierzig Kilometer galt es in einem Tag zurückzulegen. Nach einigen Stunden hielt ein Auto neben mir. Es war der Lastwagenfahrer von der Estancia. Offenbar gab es an ihm in dieser Gegend kein Vorbeikommen. „Dies ist mein Sohn“, er deutete auf den jungen Burschen auf dem Beifahrersitz, „wir nehmen dich mit nach Los Antiguos“. Wie immer lehnte ich freundlich dankend ab – undenkbar, die letzten Kilometer eingezwängt in die enge Fahrerkabine eines Lieferwagens zu erleben. Die Kilometer schälten sich hinter mir herab, die Länge der Strecke zog sich ins Unendliche, kilometerlange Stromleitungen folgten der Straße, bis ich schließlich nach einer engen Kurve ins Tal blicken konnte. Vor mir lagen Los Antiguos und der Lago Buenos Aires. Lampen erleuchteten die Straßen und Fenster der Häuser. Mein Marsch war zu Ende.