Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 9
An den Lago Buenos Aires

Wie ich meinen Weg am nächsten Tag fortsetzte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an Baufahrzeuge, Staub, endloses Dahingehen. Schnurgerade zieht sich die Straße durch die wüstenartige Landschaft. Vielleicht bin ich sogar ein Stück per Anhalter gefahren. Meine Erinnerungen setzen erst wieder in Bajo Caracoles ein, einem kleinen Nest in der Pampa, nicht mehr als ein paar Häuser an der Kreuzung der Nationalstraßen 40 und 39. Alles war geschlossen, ich benötigte jedoch Bargeld, da ich seit Wochen keinen Bankautomaten mehr gesehen hatte. Die Ruta 39 kam von Nordosten und führte nach Westen an den Lago Posadas. Dazwischen lagen 70 Kilometer menschenleere, wasserlose, windgepeitschte Pampa. Da ich dabei keinen einzigen Meter weiter nach Norden kam, entschloss ich mich, die Strecke per Anhalter zurückzulegen. Es war kaum Verkehr auf der Straße, daher machte ich mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Doch der erste Geländewagen, der kurze Zeit später vorbeikam, hielt an und nahm mich mit nach Ipolito Yrigoyen, ehemals Lago Posadas. Es war eine kleine, am Reißbrett entworfene Ortschaft unweit des Sees. Pappelalleen, menschenleere Straßen, hier und da trollte sich ein Hund. Die zwei Ingenieure, in deren Auto ich mitgefahren war, hatten mir von einem seltsamen Deutschen erzählt, der eine Estancia am Ortsausgang bewohnte. Offenbar hatte diese Person Schwierigkeiten familiärer oder persönlicher Art, das Grundstück soll von seinem Vater erworben worden sein. Ich hatte noch genügend Vorräte in meinem Rucksack, um den Lago Buenos Aires erreichen zu können, ein Marsch von etwa fünf Tagen. Ohne Zeit zu verlieren ging ich auf der Ruta 39 aus dem Ort hinaus, Richtung See. Unterwegs wurde ich von einer Polizeistreife in Zivil aufgefordert, meine Papiere zu zeigen. Meine zerrissenen Hosen mögen nicht den besten Eindruck hinterlassen haben. Ich bat sie, mir zuerst ihre eigenen Polizeiausweise zu zeigen, denn die Nachrichten aus dem Nachbarland Bolivien hatten mich vorsichtig gemacht. Dort verschwanden hin und wieder ausländische Besucher, entführt von Beamten mit gefälschten Ausweisen. Die Bankkonten der Opfer wurden geplündert, von ihnen selber sah man nie mehr etwas.…
Ein alte, auf meinen topographischen Karten verzeichnete Straße verlief parallel zum Ufer des Sees, jedoch um etwa zehn Kilometer ins Landesinnere versetzt. Nachdem ich die Hügel östlich des Sees durchquert hatte, marschierte ich auf dieser Straße weiter, bis ich bei einer Estancia anlangte, die an einem ausgetrockneten Salzsee lag. Ein Lastwagen mit einer Ladung Holz war gerade angekommen, und da ich mich nach einer Unterkunft erkundigen wollte, packte ich beim Entladen mit an. Anschließend saß ich mit einem alten Gaucho in der Küche, der Lastwagen war weitergefahren, und versuchte mich mit meinem Gegenüber zu unterhalten. Er lächelte in einem fort, aus Höflichkeit und weil er vermutlich etwas schwer hörte, während ich versuchte, ihm meine Reise anhand der Fotos auf meinem Laptop zu veranschaulichen. Ich glaube, dass er bis am Ende nicht recht verstand, was ich ihm demonstrieren wollte, so dass ich mich zeitig in die Unterkünfte der Estancia-Arbeiter zurückzog. Am kommenden Morgen ging ich quer über den Salzsee zu der Piste, die nach Nordwesten durch die Hügel führte, und hatte in kurzer Zeit die Ruta 41 erreicht. Nachdem ich den ganzen Tag marschiert war, erreichte ich gegen Abend einen kleinen See, der unweit der Straße lag. Ich überquerte den schmalen Fluss, der das Gewässer speiste, und warf die Angel aus, um mein Glück zu versuchen. Am anderen Ufer, weniger als hundert Meter von mir entfernt, versuchten zwei Gauchos dasselbe. Schon bald hatte etwas angebissen, ein starker Zug an der Leine, es war eine „Embra“, ein Forellenweibchen mit einem Bauch voller Eier. Vermutlich wäre es waidmännischer gewesen, das Tier wieder ins Wasser zu entlassen, doch mir lief das Wasser im Munde zusammen beim Anblick des stattlichen Fisches, es sollte meine Stärkung werden vor den letzten kräftezehrenden hundert Kilometern bis an den Lago Buenos Aires. Etwas weiter entlang der Piste fand sich die alte Ruine eines einfachen Hauses, dort schlug ich mein Lager auf und entfachte im zunehmenden Regen ein Feuer. Bald war es unmöglich geworden, die Flamme am Leben zu erhalten,…
Die starken Regenfälle kamen sehr ungelegen, da ich über diesen Teil der Ruta 41 abenteuerliche Geschichten gehört hatte. Die Straße führte auf fast 1500 Meter hinauf zum Paso Roballo, einer windverwehten Einöde, um sich anschließend über eine Distanz von etwa zwei Tagesmärschen den Berg hinab zu winden, nach Los Antiguos, einem kleinen Grenzstädchen. Am Morgen regnete es immer noch, und die Piste war zu einer braunen, schmierigen, schlammigen Paste verquollen. Als die Steigung der Straße stark zunahm, rutschte ich bei jedem Schritt, den ich tat, wieder einen halben Meter zurück. Nach einigen Stunden Anstrengung machte ich eine notdürftige Pause im Regen, ich breitete die Plastikplane über mir aus und versuchte, meine Kräfte zu sammeln für den verbleibenden Aufstieg. Ich aß die verbleibende Hälfte des Fisches, welcher ausgezeichnet schmeckte, das er über dem im Regen schwelenden Feuer geräuchert worden war. Meine Schuhe waren schlammverschmiert, die rutschige Piste begann, mir den letzten Nerv zu rauben, als ich die Höhe erreichte, wo der Regen zu Schnee wurde und der Boden gefroren war. Nun war das Gehen deutlich einfacher, und ich erreichte den Paso Roballo und das einsame blaue Straßenschild, das den höchsten Punkt markiert, just bevor es dunkel wurde. Da ich mich in einer sehr unwirtlichen Gegen befand und nirgends eine geschützte Stelle für das Zelt entdecken konnte, entschloss ich mich, mit dem Abstieg zu beginnen, und bei der ersten Gelegenheit das Lager aufzuschlagen. Dies wollte ich noch oberhalb der Schneegrenze tun, um nicht im knöcheltiefen Morast übernachten zu müssen. An einem kleinen gefrorenen Rinnsal, wo die Piste zwei enge Kurven beschrieb, schien mir ein geeigneter Ort zu sein. Eine etwa mannshohe Geröllhalde bot notdürftigen Schutz vor etwaigen Stürmen.
Mein Benzinkocher hatte mir schon seit vielen Wochen Probleme bereitet; winzige Rußpartikel aus dem Treibstoffschlauch verstopften die feine Düse, und auch ein sorgfältiges Säubern aller Teile brachte nur kurze Besserung. Nun, zwei Tage vor dem Ende des Marsches, schien er endgültig den Geist aufgegeben zu haben. Ich war in einem kalten und windigen Gebirge, die Temperatur war unter dem Gefrierpunkt, daher war ich auf eine warme Mahlzeit angewiesen, um Nachts die nötigen Kräfte zurückzugewinnen. Ich musste improvisieren, also vergrub ich eine Konservenbüchse halb im Boden, füllte sie mit dem verbliebenen Benzin und brachte das Wasser darüber zum Kochen. Das Problem war, dass ich dies in der Apside meines Zeltes tun musste, da der Wind zu stark geworden war, um im Freien zu kochen. Die stark rußenden Flammen züngelten zentimeterhoch am Kochtopf empor, und eine einzelne Stichflamme hätte genügt, um mein Außenzelt lichterloh brennen zu lassen. Ich versuchte, das Material, das der Flamme am nächsten war, mit meinem Kochlappen zu schützen. So schaffte ich es trotz aller Widrigkeiten, das Wasser zum Kochen und die Nudeln gar zu bekommen. Ich hatte gegessen und löschte das Licht, zog mir den Schlafsack bis übers Kinn. Zum ersten Mal in jenem halben Jahr, seit ich in Ushuaia losmarschiert war, fror ich in jener Nacht in meinem Zelt. Wie ich gerade mein Frühstück zu mir nehmen wollte, hörte ich ein Hupen von der Straße. Der alte Lastwagen, den zu entladen ich neulich geholfen hatte, quälte sich durch die engen Kurven talabwärts, am Steuer die fröhlich winkenden Arbeiter. Offenbar waren sie auf der gefrorenen Piste den Berg hinaufgekommen, um nun auf dieser Seite eine neue Ladung Holz zu holen. Vor mir lagen noch siebzig Kilometer, nur wenige Estancias gab es in dieser Gegend. Den gesamten Tag ging ich hinab, wobei die Straße meist dem Lauf des Flusses folgte.
Am Abend hatte ich eine Kreuzung erreicht, ein Gauchito säumte den Wegesrand. Eine kleine grüne Wiese war davor. Ich konnte jedoch auch weitergehen und auf einer nahen Estancia um Unterkunft bitten. Ich entschloss mich für letzteres, ein deutliches Zeichen dafür, dass mein Komfortbedürfnis bedenkliche Ausmaße angenommen hatte. Nach der traditionellen Mahlzeit, bei der ich den Ehrenplatz am Kopfende des Tisches zugewiesen bekommen hatte, und die wie gewohnt aus Fleisch und sonst nichts bestand, übernachtete ich in der nahen Scheune. Morgends kam ich an den Gauchos vorbei, die sich auf ihren Pferden zu einem weiteren Tag Arbeit bereit machten. Zwar war es nichts als Routine für sie, der Alltag der argentinischen Berge und der Pampa; doch der Anblick der Pferde, des ledernen Sattelzeugs und der windgegerbten Gesichter war allemal erträglicher als eine Gruppe von Pendlern sechs Uhr morgens an der Bushaltestelle einer Großstadt. Die verbliebenen vierzig Kilometer galt es in einem Tag zurückzulegen. Nach einigen Stunden hielt ein Auto neben mir. Es war der Lastwagenfahrer von der Estancia. Offenbar gab es an ihm in dieser Gegend kein Vorbeikommen. „Dies ist mein Sohn“, er deutete auf den jungen Burschen auf dem Beifahrersitz, „wir nehmen dich mit nach Los Antiguos“. Wie immer lehnte ich freundlich dankend ab – undenkbar, die letzten Kilometer eingezwängt in die enge Fahrerkabine eines Lieferwagens zu erleben. Die Kilometer schälten sich hinter mir herab, die Länge der Strecke zog sich ins Unendliche, kilometerlange Stromleitungen folgten der Straße, bis ich schließlich nach einer engen Kurve ins Tal blicken konnte. Vor mir lagen Los Antiguos und der Lago Buenos Aires. Lampen erleuchteten die Straßen und Fenster der Häuser. Mein Marsch war zu Ende.