Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 8
Zu Besuch bei Gauchos

Nach Norden fiel die Hochebene allmählich in die Pampa ab. Eine Straße verband das Archipel im Westen mit der Ruta 40 im Osten. Auf diese Straße marschierte ich zu. Infolge der Anstrengungen entschloss ich mich, an einem windgeschützten Flussufer zu rasten. Normalerweise hatte ich an Ruhetagen nicht genug Zeit, um alles zu tun, was ich wollte. Lesen, die Ausrüstung ausbessern, meinen Spanisch-Wortschatz erweitern, Angeln, Ausruhen, laufend Essen kochen, in die Ferne blicken und nachdenken, die Umgebung erkunden. Ein halbes Jahr war vergangen, und allmählich begann ich, meine Beschäftigungen als Routine zu empfinden. Ich begann, mich zu langweilen. Nicht nur der Herbst schien sich dem Ende zuzuneigen, sondern auch meine Zeit in Patagonien. Ich hatte wegen den vielen Umwegen erst die Hälfte der Distanz geschafft. Teile meiner Ausrüstung, vor allem meine wind- und dornenfeste Jacke, begannen Abnutzungserscheinungen zu zeigen. Meine Bundeswehrhose hing mir schon seit Wochen in Fetzen vom Leibe, zusammengehalten von Klebeband. Ich musste von nun an zügiger vorankommen und das größere Ziel im Auge behalten: die Durchquerung Patagoniens bis zum Rio Negro. Am nächsten Tag, nach einer kleinen Pause bei einem freundlichen Gaucho in der nahen Estancia, folgte ich einem Flussbett nach Norden. Zu meiner Linken sah ich zwei Gehöfte, an denen ich vorbeimarschierte, ohne mich aufzuhalten. Zwei Gauchos kamen mir nachgeritten. Bald hatten sie mich eingeholt und stiegen vor mir ab, schüttelten meine Hand. „Du marschierst sehr schnell“, sagte der eine. Die Pferde gingen mit einem Schritt von etwa sechs Kilometern die Stunde, ich schaffte fünf. Normalerweise legte ich auf einer guten Piste dreißig Kilometer am Tag zurück. Ich war erfreut über die respektvolle Behandlung; dass ein Gaucho von seinem Pferd steigt, um einen Fremden zu begrüßen, war ungewöhnlich. Die beiden luden mich zum Mittagessen in ihren Puesto ein. Sie hatten eine größere Anzahl von Pferden dabei. Als ich beim Puesto ankam, war die Herde im Korral untergebracht. Ich wurde freundlich empfangen und zur traditionellen Mahlzeit eingeladen, großen Stücken Rindfleisch mit in Öl frittiertem Brot als Beilage. Zur…
Nach der Mahlzeit drehten wir uns Zigaretten, und sie erzählten mir von den Pumas, die in der Gegend noch nicht ausgerottet waren. Üblicherweise wurden sie gejagt und mit dem Revolver getötet. Dazu tischten sie mir Schauermärchen auf: „Zuerst“ sagten sie, „frißt ein Puma deine Eier, wenn er dich erwischt.“ Ich nahm diese Information entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Anschließend drehte ich einen kleinen Film von der Szenerie im Inneren des Puestos. Ihre Scheuheit war sehr groß. Der Gaucho, der schon die Nudeln verschmäht hatte, verließ geniert die Hütte, während ich mit der Kamera einen Schwenk vollführte und den kleinen Raum abfilmte. Als ich mir das Filmchen anschließend anschaute, übermannte sie die Neugierde. Gerade hatten sie sich noch gewunden und geschämt, nun lachten sie über ihre eigenen betretenen Gesichter. „Buena camera“, sie nickten anerkennend. Die Pferde im Korral gehörten dem Verschämten. Er war ein großer, hagerer Kerl mit Schnauzbart und roten Haaren, die er mit einer Boina, dem typischen Hut der Gauchos, bedeckte. Er schien etwas melancholisch zu sein. Offensichtlich war er mit seinem gesamten Hab und Gut unterwegs, um neue Arbeit zu finden. Ob sie zusammen auf der nahen Estancia gearbeitet hatten, oder ob er schon seit längerem durch die Gegend zog, erfuhr ich nicht. Er wies mir einen Weg über die Hügel nach Norden, der kürzer war als die Piste. Schließlich bedankte ich mich bei den beiden, schüttelte ihre Hände zum Abschied und marschierte weiter. Ich erinnere mich nicht mehr an den Weg, den ich einschlug. Nach einem Tag erreichte ich eine Estancia und ließ mich dazu überreden, den restlichen Nachmittag und die Nacht dort zu verbringen. Geselligkeit gegen eine Mahlzeit. Es gab meist nur wenig Gesprächsstoff, die Welt des Gauchos waren seine Tiere, das Wetter, seine Arbeit, die sich nach der Jahreszeit richtete, und die spärlichen Ereignisse im Umland. Wenn ich von meinem Marsch erzählte, erhielt ich kaum Reaktionen. Vielleicht fanden sie es unverständlich, oder sie glaubten mir nicht. An langen Abenden, bei wenig neuen Ereignissen,…
Am nächsten Tag musste ich einen steilen Abhang erklimmen. Mein Gastgeber war vorausgeritten und zeigte mir den Weg. Er deutete auf zwei nahe beieinander liegende Hügel in etwa einem Tagesmarsch Entfernung. Jenseits der Hügel lag eine verlassene Estancia, wo ich die Nacht verbringen konnte. Von dort führte eine Piste in etwa zwei Tagesmärschen nach Osten zur Ruta 40, der ich weiter nach Norden folgen wollte. Es war ein weiterer Umweg, doch der direkte Weg nach Norden, über das Gebirge, schien mir zu unwegsam. Der Gaucho warnte mich noch, dass es in der Gegend vor mir Pumas gab. Unter einem bewölkten Himmel marschierte ich durch die Ebene und hatte die Hügel gegen Abend erreicht. Ich musste zwischen ihnen hindurchmarschieren, um zu der verlassenen Estancia zu gelangen. Mein Blick streifte die oberen Hänge, wo es dunkle Felsen gab. Eine unheimliche Stille lag über dem Ort. Als ich den Fuß des östlichen Hügels schließlich umrundet hatte, sah ich die Estancia. Sie lag, an einen flachen Hang gekauert, dunkel und verwahrlost da. Im wogenden Gras, einige hundert Meter von den Gebäuden entfernt, entdeckte ich zwei Gräber. Geschichten schienen mit jenen Gräbern und dem verlassenen Gehöft verknüpft zu sein, und waren vielleicht bald ganz vergessen. Es wurde rasch dunkel und ein starker Wind kam auf. Zu meiner Überraschung war das Hauptgebäude abgesperrt. Die Fenster waren verglast und innen wirkte alles aufgeräumt, so als könnten die Menschen jederzeit zurückkehren. Der Boden im Hof war voller Laub, mehrere umgestürzte Stühle, ein alter Brunnen. Der Wind schüttelte die alten Bäume durch, alles war dunkel und verlassen. Ein einfacher Bau schien die Unterkunft der Gauchos gewesen zu sein, eine einzelne unverschlossene Tür führte mich in einen Schlafraum. Der Boden war mit Gerümpel und Papierfetzen übersäht, an der Wand lehnte ein Bettgestell mit Sprungfedern. Ich verriegelte die Tür von innen und breitete meinen Schlafsack aus. Irgendwo schlug ein Fensterrahmen. Ich schaute mir die Hinterlassenschaften in dem Zimmer genauer an und entdeckte einen Comic. Der Gaucho musste ihn zurückgelassen haben, zusammen…
Sie handelte von einem muskelbepackten Kerl, der in zerfetzten Kleidern unsagbare Abenteuer erlebte. Die Geschichte hieß „Der alte Krieger“. Mitten in der Wildnis eines unbekannten Landes traf dieser Held auf einen Menschen, der in großer Eile flüchtete. Die Soldaten des alten Königs waren ihm auf den Fersen für ein Unrecht, das er nicht begangen hatte. Fingen sie ihn ein, so würden sie ihn töten. Dies war eine Situation wie maßgeschneidert für den Helden, der zwar etwas schwerfällig wirkte, aber offenbar einen starken Sinn für Gerechtigkeit besaß. Er half dem Verfolgten bei seiner Flucht. Unterwegs trafen sie einen alten Veteranen mit einer Augenklappe, der sich ihnen ebenfalls anschloss. Irgendwann hatten sie das Ende des Weges erreicht, vor ihnen ein steiler Abgrund, die Häscher der Königs ganz nah. Wahnsinn in den Augen, riss sich der Flüchtende das Hemd vom Leibe, und zu Boden fielen kostbare Schmuckstücke, die er darunter versteckt hatte. „Alles mein!“, schrie er, „Helft mir zu entkommen, und wir sind reich!“ Da richtete der alte Soldat das Wort an ihn: „Diesen Schmuck hast du der Königin geraubt, und sie dabei ermordet. Daher jagen dich die Männer des Königs!“ Sprach’s, zog sein Schwert und schnitt dem Räuber, dessen Gesicht eine Fratze des Schreckens war, die Kehle durch. Zum Helden gewandt, sprach er folgendes: „Du fragst dich, woher ich all dies weiß. Nun, ich selbst bin der König. Ich habe mich als einfacher Soldat verkleidet und bin meinen Männern vorausgeeilt, um den Mörder meiner Gemahlin selber zur Strecke zu bringen. Erst jetzt konnte ich sicher sein, dass er wirklich dieser Kerl hier gewesen war.“ Dies schien dem Helden einzuleuchten, und er war zufrieden. Gerechtigkeit war getan! Etwas schwerfällig ging er davon, neuen Abenteuern entgegen. Ich legte das Heft beiseite. Die Geschichte hatte mich völlig in ihren Bann gezogen. Trivial wie sie war, hatte sie an dem verlassenen Ort eine Intensität entwickelt wie ein unsterbliches Stück Weltliteratur. Ich knipste das Licht aus und schaute auf die verschlossene Tür. Würde sie mitten in der…
Früh morgens stand ich auf der Piste, welche zur im Osten liegenden Ruta 40 führte. Ich marschierte los. Der Wind war so stark geworden, dass ich Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Heftige Böen kamen von der Seite, so dass mein Rucksack und ich, eine Einheit von rund hundert Kilo, von einer Seite der Piste zur anderen taumelten wie ein Schluckspecht auf dem Nachhauseweg. Abend erreichte ich ein kleines Tal, das Schutz vor dem Wind versprach. Ich fand sogar Unterkunft in einer Estancia, wo ein alter Gaucho lebte. Wir unterhielten uns bis spät abends, bevor er mir am nächsten Morgen den Verlauf der Piste über sein Grundstück zeigte. Nach einem erneuten Tag des Taumelns und Fluchens im Wind erreichte ich die Ruta 40. Es gab nichts als ein einzelnes kleines Grundstück, darauf eine Bar, und der Wirt freute sich über etwas Gesellschaft. Mein Plan war es jedoch, auf der Ruta 41 nach Westen zu wandern. Dazu wollte ich den Bus ein Stück weit nach Norden nehmen, anschließend über die Berge an den Lago Buenos Aires gelangen. Der letzte Teil dieser Ruta 41 war berühmt-berüchtigt und bei schlechtem Wetter nur mit einem Geländewagen zu überwinden. „Der Bus kommt erst später“, sagte der Wirt, „komm derweil hinein, ich gebe dir einen Kaffee aus“. Diese Einladung konnte ich schlecht ausschlagen, wollte ich nicht draußen im Wind an der öden Straße herumlungern. Kaum stand ich am Tresen und nahm den ersten Schluck, hörte ich draußen die Dieselmotoren eines großen Fahrzeuges näher kommen und schaffte es gerade noch bis zum Fenster, um den Bus vorbeifahren zu sehen. Es war der einzige Bus an diesem Tag. „Nun ist er doch schon früher gekommen“, sagte der Wirt, dem man die Überraschung fast hätte glauben können – er hatte durch seine kleine Finte einen Gesprächspartner für den Abend gewonnen. Am Ende war ich froh darüber. Der Wirt war ein kleiner, untersetzter Argentinier in seinen mittleren oder späten Vierzigern, mit einem freundlichen Lachen und einer großen Gesprächigkeit. Zum Abendessen…