Mit dem Rad an den Polarkreis

Kapitel 4
Von Lappen und Hammerfesten

Seltsamerweise wusste keiner der Leute, die ich darauf nach den Hundeschlitterennen befragte, darüber bescheid, und überhaupt schien mir meine Tour auch nicht weniger spannend zu sein, und so begann ich eine Tagesetappe, die auf meiner Karte recht seltsam aussah. Denn die Strecke von rund 90 Kilometer legte auf der Karte eine erstaunliche Distanz zurück, während ich bisher die meisten Kilometer mit Kurven und Steigungen zugebracht hatte. So oder so, dachte ich mir, wird es ein interessanter Tag. In ein paar fiesen Steigungen voll Eis und Schnee, die mich über die achterbahnartige Straßenführung fluchen ließen, erreichte ich wieder eine Art Hochebene, die mich sehr an diejenige am Polarkreis erinnerte. Den ganzen Vormittag war ich an sonntäglichen Ausflüglern aus Alta vorbeigekommen, die mit Skiern oder Schneemobilen in der hügeligen Landschaft verschwanden. Echt beneidenswert diese Leute, mit einer solchen Natur direkt vor der Haustür. Dann hatte ich die baumlose Zone bei etwa 400 m.ü.M. erreicht, und die Magie begann. Ich ließ mein Fahrrad am Straßenrand und stapfte durch den Schnee einen nahen Hügel hinauf, und dort oben eröffnete sich mir ein Weitblick über nichts als strahlend weiße Berge, und zwischen den schnell vorbeiziehenden Wolken der blaue Himmel. Ich setzte mich hin, mit dem Rücken zum Wind, und war am Ziel aller meiner Wünsche – ich war im Schnee. Schnee soweit das Auge reicht! Einzig die E6, die sich schnurgerade durch die Landschaft zog, erinnerte mich ein wenig daran, wo ich herkam. Ich war gottefroh, diese Gegend mit meinem Fahrrad, und nicht etwa mit dem Auto, zu durchfahren. Ich pfiff und winkte einem entfernten Langläufer zu, und er winkte zurück, ganz so, als ob wir alte Kumpel seien. Und tatsächlich sind alle Menschen, die sich zu dieser Landschaft hingezogen fühlen, irgendwie Kumpel.
Und so fuhr ich immer weiter, bis ich in Skaidi eintraf, dem eigentlichen Ziel des heutigen Tages. Doch außer einem kleinen Supermarkt und einer Tankstelle, in der mich die Kassiererinnen mal wieder unsicher beäugten, so als wäre ich aus den Wäldern herabgestiegen, um hier zu plündern und zu brandschatzen, gab es nicht viel zu sehen, geschweige denn einen Ort zum Übernachten. Außerdem war es die Stelle, wo ich mich von der E6 verabschieden musste. Ich sagte Auf Wiedersehen zu dieser Straße, die sich alles in allem sehr gnädig mir gegenüber gezeigt hatte, und begrüßte die 94, meine Begleiterin für die letzten Kilometer bis Hammerfest. Ich fuhr auf der holprigen Straße los, immer nach einem Lagerplatz äugend. Doch an allen Stellen, die in Frage kamen, standen schon Häuser, und so kam ich an den Repparfjorden und musste Abschied nehmen von der Idee, am Flussufer zu zelten. Es wurde dunkel, und der Wind, der vom Fjord her über die Straße pfiff, war eigentlich zu stark zum weiterfahren. Wie sollte ich bei einer solchen Windstärke mein Zelt aufbauen? Verließ mich mein Glück hier, nach einem wundervollen Tag? Ich radelte fluchend über eine Brücke, die Kapuze meiner Jacke tief ins Gesicht gezogen. Auf einmal bemerkte ich einen kleinen Jungen, der am Brückengeländer lehnte und mich frech angrinste. Ich kam mir etwas dumm vor, weil ich so laut vor mich hin geschimpft und geflucht hatte, doch ich war auch froh, in dieser schneeverwehten und dunkler werdenden Landschaft überhaupt ein menschliches Wesen zu sehen.
Es war, um ehrlich zu sein, kein besonders berauschendes Gefühl, bei diesem Wetter in die nördlichste Stadt der Welt einzufahren. Ich machte mich auch gleich auf die Suche nach einer Unterkunft. Doch zu meiner Überraschung waren alle preiswerten Unterkünfte geschlossen, eine Jugendherberge gab es nicht, und da die Touristeninformation geschlossen war, musste ich eine Menge rumtelefonieren und rumfahren. Ich erkundigte mich an einer Tankstelle nach Übernachtungsmöglichkeiten, und man verwies mich an einen gewissen Knut Hogen, der im Autohaus nebenan arbeite und Zimmer hätte. Ich kam zu Mister Hogen, einem mittelgroßen glatzköpfigen Typ, der mich etwas an die Macker auf dem Hamburger Kiez erinnerte. Nein, sagte er nach scheinbar kurzem Überlegen, er habe keine Zimmer. Es kam mir etwas seltsam vor, und außerdem mag ich kein „Nein“, und so verabschiedete ich mich kurzangebunden. Ich musste also weitersuchen. Nach noch mehr kostspieligen Telefonaten stand ich schliesslich in einer von Türken geführten Pizzeria und erkundigte mich nach einem Herrn Blix. Sie deuteten mit dem Arm in eine Ecke der Gaststätte, und wer saß da? Der Glatzkopf. Anscheinend war er wirklich nicht besonders daran interessiert, Zimmer in seinem Arbeiterheim zu vermieten. Erst nach längerer Diskussion konnte ich ein ziemlich mittelmäßiges, kaltes Zimmer ohne richtige Kochgelegenheit für nur eine Nacht klarmachen, zu einem nicht unbedingt niedrigen Preis, doch es war das einzige, was in Hammerfest zu haben war. Das Ganze stand im krassen Gegensatz zu der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Norweger, die ich bisher an der Strecke getroffen hatte.