Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 3
Zwischen zwei Ländern

Irgendwo vor mir in den Bergen war die Estancia Vizcachas, und dort musste ich nach dem Weg fragen; denn wo genau der Pass war, über den ich musste, konnte man mir nur dort sagen – dachte ich. Es wurde ein Acht-Stunden-Tag, bevor ich die Estancia am Fusse des Cerro Negro erblickte. Ein verrückter Paltz für eine Estancia, wie ich fand. Stunden von der nächsten Strasse entfernt, umgeben von Bergen und Hügeln. Ich stieg hinunter an den Rio Vizcachas, der hier schnell und eiskalt floss, und schlug im letzten Licht des Tages mein Lager auf. Hier oben, lediglich ein paar hundert Meter über der Ebene, in der ich mich die Tage zuvor zu Tode geschwitzt hatte, wurde es nach Einbruch der Dunkelheit rapide kälter. Am nächsten Mittag dann die Überraschung; die beiden Gauchos der Estancia Vizcachas konnten mir ebenfalls keine näheren Angaben über den Paso Verlika machen, kannten ihn höchstens dem Namen nach. Zumindest sagten sie so – mir kam das Ganze nämlich langsam etwas seltsam vor. Wahrscheinlich hielten mich die Leute für einen chilenischen Spion, als Tourist getarnt und mit gestelltem Gringo-Akzent. Am Ende des Tales, wo der Rio Vizcachas entsprang, gab es drei Täler – welches nehmen? Ich hatte zwar die Karte des IGM, doch dort war der Paso Verlika jenseits der Grenze in chilenischem Gebiet eingezeichnet. Einer der beiden Vizcachas Leute ging mit mir einen nahen Hügel hinauf und zeigte mir die ungefähre Richtung, und ich glaubte, zu verstehen, dass das mittlere Tal das Richtige sei. Am Ende des Haupttales gab es noch einen letzten Puesto, dort wüssten die Leute den Weg, hiess es. Das Tal war unglaublich breit und die Seiten, von urzeitlichen Gletschern geformt, liefen rund an den Bergen empor wie bei einer riesigen prähistorischen Badewanne. Winzigklein erkannte ich in kilometerweiter Entfernung die kleine Holzhütte des Puestos der Estancia Vizcachas, dahinter ragten die zackigen Felsen und Berge der Cordillera auf. Natürlich hatte ich es fast so erwartet; der einsame Gaucho im Puesto „war gerade erst angekommen“…
Vor mir der Pass und die Berge, über mir ein Himmel, der sich mehr und mehr zuzog und es schliesslich schneien liess, so dass das Tal unter mir hinter einer weissen Mauer verschwand und sich die Sicht auf wenige hundert Meter verringerte. Aber das machte nicht so viel aus, weil es sowieso nur einen Weg gab. Irgendwo hier, am höchsten Punkt des Bergrückens, verlief die chilenische Grenze. Um über den Paso Verlika zu gelangen, würde ich für kurze Zeit illegal Einreisen müssen. Doch das hier oben irgendwo ein Carabinero hockte und aufpasste, dass niemand gegen internationales Recht verstiess, hielt ich für eher unwahrscheinlich. Je weiter ich nach oben kam, desto mehr Gedanken machte ich mir über den Abstieg auf der anderen Seite, denn auf meiner topographischen Karte waren die Höhenlinien im Westen um einiges dichter eingezeichnet, was darauf schliessen liess, dass der Weg hinab viel steiler war. Aber hier mussten die Reiter aus Calafate schliesslich durchgekommen sein. So dachte ich, bis ich den höchsetn Punkt des Aufstiegs erreichte und im Schneetreiben an den Abhang trat, der nach Chile führte: Unmöglich! Unmöglich, hier mit einem Pferd hinaufzuklettern! Irgendwas war hier schief gelaufen. Doch ich hatte den einzig möglichen Weg aus jenem Tal genommen, durch das die Reiter gekommen sein sollten! Ich blickte hinab: ein Geröllhang fiel in einem steilen Winkel ab ins Tal, um keine hundert Meter weiter unten in einer Reihe von steil aufragenden Felsen zu enden – was dahinter lag, liess sich nicht erkennen. Ein weiterer Hang, eine steile Felswand? Mir wurde recht mulmig zu Mute. Der Geröllhang sah noch einigermassen machbar aus, doch eine steil abfallende Felswand würde ich nicht hinunterkommen, und das würde Umkehren und stundenlanges Zurückmarschieren zum Puesto bedeuten – keine erfreuliche Vorstellung. Auch die Steilheit des Hanges begann, mich etwas unruhig zu machen. Also zwang ich mich erstmal zu einer Pause, die ich unter dem natürlichen Schutzdach eines aus dem Fels herausgebrochenen Steines verbrachte. Ich trank den heissen Tee, den ich mir noch im Tal…
Tat es eigentlich weh, in den Bergen abzustürzen? Diese Frage beschäftigte mich, während ich Schritt für Schritt abstieg. Ein kurzer, schrecklicher Moment des Halt-Verlierens, danach der Fall und der Aufschlag, und eine kurze Zeit, die einem blieb, bis man seinen letzten Atem aushauchte. All diese Felsen wirkten so hart. Aber vermutlich war es immer noch besser, als in einer Grosstadklinik an den Schläuchen zu hängen, um endlich, als Soundsovielter in diesem Monat, den Löffel abzugeben. Währenddessen hangelte ich mich vorsichtig zum Flussbett hinüber. Ich sah, das etwas die Sache erschweren würde: das spärliche Wasser nämlich, das hier den Fels hinunterfloss, rieselte unter einer dicken, harten Schneeschicht, die sich darüber gebildet hatte. Der ganze Abstieg war eine weisse Schneerutschbahn, mit hier und da herausragenden Felsen. Würde ich ausutschen und auf dem Schneefeld hinuntersausen, würde ich mir daran alles mögliche Aufschlitzen. Ich klammerte mich, wärend ich versuchte, mit der Ferse notdürftige Stufen in den Schnee zu treten, an Felsen und Steinen fest, und erreichte so die Stelle, wo sich der Bach eine Schneise durch die Felswand gebahnt hatte. Ich hatte optisch etwas Schwierigkeiten, die Steilheit des Hanges unter mir zu erkennen; direkt von oben wirkte es fast senkrecht, doch wiederum konnte ich nur einen Teil des Weges sehen, und vertraute so einfach auf mein Glück. Ein Zurückklettern wäre jetzt extrem kräftezehrend und zeitaufwendig geworden. Dann: die Erleichterung! Ich hatte die Seite des Schneefeldes gewechselt und kletterte nun wieder über zwar nassen, aber dennoch sicheren Felsen, als ich sah, dass das Geröllfeld unter mir in einem sanften Schwung direkt in den Talboden mündete. Geschafft! Ich lebte noch! Der Regen durchnässte mich, als ich neben einem grossen Felsbrocken eine kurze Pause einlegte und einen Blick zurück wagte. Ich hatte mehr Glück als Verstand gehabt: der Durchgang durch das Flussbett war die einzige Möglichkeit hinab ins Tal gewesen, ringsherum nur steil abfallende Felswände! Der Bammel, den ich oben am Bergkamm verspürt hatte, war heftiger als gedacht gewesen, das merkte ich nun am Grade meiner Erleichterung.…
Ich kam an mehreren kleinen Puestos vorbei, die zur Estancia weiter unten im Tal gehörten. Es war früh morgends, und ich wollte niemanden stören und marschierte still vorbei. Ein einfacher Weg war nun da, der aussah, als wäre jemand kreuz und quer mit einer Planierraupe über die Hügel gefahren. Immer wieder musste ich meine Schuhe ausziehen, da der Fluss von einer Seite des Tals auf die andere mäanderte. Es war einer dieser zwanzig-Zentimeter-Flüsse: so nannte ich bei mir die Gewässer, bei denen an allen Stellen immer der eine Schritt fehlte, um trockenen Fusses über die Steine ans andere Ufer zu gelangen. Irgendwann hatte ich es dann satt und latschte einfach mitsamt Schuhen durch das Wasser – es war so warm, dass das Leder rasch wieder trocken wurde. Meine Gedanken kreisten um den Lago Argentino und die Stadt El Calafate, ein Touristenparadies am Südufer des Sees und einziger Ort, wo ich neue Vorräte bekommen würde. Ich hatte in den Wochen zuvor gefunden, dass es einfacher war, ausgeruht in eine Stadt zu kommen, anstatt ausgehungert und auf dem Zahnfleisch gehend einzumarschieren, und so machte ich einen letzten Pausentag am Ufer des Flusses. Ich wollte mir was zu essen fangen, doch es gab wieder nur kleine Winz-Forellen, von denen eine allerdings anbiss: der Blinker war halb so gross wie sie! Der Weg, angenehm zu gehen, machte ein paar lange Windungen durch die Hügel, und dann war ich an der letzten Biegung angelangt und sah ihn vor mir: türkisblau lag er vor den Bergen der Andenkordillere – der Lago Argentino. Ein neues Kapitel hatte in meiner Reise begonnen; ich war nun im Land der grossen Seen.