Durch die Wildnis von Feuerland

Kapitel 3
Die Señalada

Ich strich jedenfalls die Rückseite der Garage zu Ende und verkündete Mario anschliessend, ich hätte nun noch ein paar Dinge mit meiner Mochilla zu erledigen. Ich dachte daran, den Nachmittag noch irgendwie mit den anderen zu verbringen, so viel wie möglich zu essen und am nächsten Morgen weiterzuziehen. Schliesslich kam mir mein eigenes Abendteuer auch nicht langweiliger vor als die für mich phantastisch wirkende Arbeit eines Gauchos auf einer Estancia. Doch es sollte anders kommen. Denn wie ich so dalag und mehr oder weniger auf das Abendessen wartete, stand auf einmal Francisco im Zimmer, der Sohn Eduardos, und lud mich spanisch sprechend zur morgigen Señalada ein – er machte dabei eine Handbewegung, als würde er ein Seil, an dessen unterem Ende ein Gewicht befestigt ist, durchschneiden. Zur Zeit der Señalada, die einmal im Jahr stattfindet, die jungen Kälber markiert werden, wobei den jungen Bullen zusätzlich die Hoden entfernt werden, was Francisco mit seiner Pantomime andeuten wollte. Ich sagte natürlich sofort zu, und Francisco riet mir, meine Kamera mitzunehmen, um möglichst viele Fotos zu schiessen. Wir verabredeten, dass er am nächsten Morgen mit dem Jeep vor dem Arbeiterhaus auf mich warten würde. Und so fuhren wir am folgenden Tag in aller Frühe hinaus zum Corral, der sich rund fünf Kilometer weg von der Estancia im Hinterland befand. Am Corall angekommen warteten wir auf die Reiter, die die Mutterkühe mit den Kälbern von der Weide und aus dem Wald in das Gatter treiben würden, wo die Tiere dann getrennt und „bearbeitet“ werden würden. Doch Sandro, Lilo, Eduardo und der Vater von Gaston, dessen Namen ich dauernd vergass, waren nirgends zu sehen, und so unterhielten wir uns auf Englisch über die verschiedensten Dinge, so z.B. die Zukunftspläne Franciscos, der nach Buenos Aires auf die Uni wollte, um eine „Career“ zu machen. Nebenbei erzählte er mir, wie wertvoll Sandro für die Estancia war, Aufgrund seines Wissens über die Tiere und die Arbeit und seiner Fähigkeit, zuzupacken wie kein anderer. Ich sprach das indianische Aussehen…
Nachdem alle einundachtzig Kälber im entspechenden Bereich waren, wurde rund die Hälfte von ihnen durch ein weiteres Gatter in den nur etwa zehn mal vier Meter grossen Bereich der Señalada getrieben. Währenddessen hatte Eduardo bereits mehrere Kisten herangeschleppt, in denen sich das Werkzeug zum Markieren der Ohren, eine Art Spritze zum Impfen sowie weitere mir unbekannte Dinge befanden. Gastons Vater hatte ein kleines Messer, das er nun zu schärfen begann – das eigentliche Kastrieren war seine Aufgabe, während Don Eduardo das Markieren der Ohren und Stutzen der Hörner übernahm. Sandro, Lilo und Francisco waren dazu da, um die Tiere zu Boden zu werfen und festzuhalten. Dann begann das Ganze. Ich nahm meinen Fotoapparat und machte von jedem Arbeitsgang ein Foto. Dann stand ich da und dachte mir, dass die anderen über ein wenig Hilfe froh sein würden, und ausserdem wollte ich lernen, wie man ein Kalb zu Boden wirft. Ich zog also meine Jacke aus, um sie nicht mit Kuhmist zu bekleckern, nahm meine Bundeswehrhandschuhe und kletterte über das Gatter. Francisco hatte gerade eines der Kälber zu Boden gerungen und lachte nun, als er sah, dass ich mithelfen wollte. Er wies mich an, wie ich das Kalb an den Hinterbeinen packen sollte, während es am Boden lag. Das in die Luft gestreckte Hinterbein wird dabei gepackt und nach hinten gezogen, während man mit dem Fuss den Oberschenkel des anderen Beines von sich wegdrückt, um sich vor den Tritten des Tieres zu schützen. Wie das Tier dann am Boden festgehalten wurde, kamen entweder Eduardo oder Gastons Vater, um ihre Arbeit zu erledigen. Die abgeschnittenen Hoden der jungen Stiere flogen dabei links und rechts über den Zaun, als Festessen für die Hunde. Nachdem ich bei dieser Prozedur ein paarmal mitgemacht hatte, wollte ich es selber versuchen, ein Kalb zu Boden zu ringen. Dabei gibt es zwei Methoden: entweder man packt das Kalb am hinteren Teil des Körpers, wo der Oberschenkel in den Bauch übergeht, sowie am Hals, hebt es in die Luft,…
Abends kam Gaston von seinem Arztbesuch in Rio Grande zurück (er hatte sich bei der Jinetada, einer Art Rodeo, die Knochen gebrochen). Ich hatte ihm Geld gegeben und ihn beauftragt, Bier zu besorgen. Das Bier war nun da, und das Besäufnis konnte starten, welches keines wurde, da pro Mann knapp ein Liter zur Verfügung stand. Am Morgen verabschiedete ich mich von allen. Nach Radman, dem Grenzübergang nach Chile, waren es etwas mehr als dreissig Kilometer, die ich bei kühlem, idealem Wanderwetter in einem Stück zurücklegte. Gegen Mittag fing es an, in meinem Bauch zu rumoren. Ich schaffte es gerade noch bis zu einem Gebüsch an der Strasse, dann floss es nur so aus mir heraus. Das erste Mal, dass ich auf einer meiner Reisen Durchfall bekam. Und wie froh war ich, als ich dann später in meinem Erste-Hilfe-Kasten ein paar Kohletabletten fand, die mir meine Schwester noch mitgegeben hatte. In Radman, grossartig als „Paso International Bella Vista“ ausgezeichnet, wurde mein Pass von zwei ziemlich verpennten Zollbeamten abgefertigt; der eine hatte keine Lust, der andere keinen Plan. Waren sie deshalb hierher versetzt worden? Auf dem Grundstück der Polizei campen durfte ich nicht. Also ab nach Chile. Doch ich guckte ziemlich dumm, als ich feststellen musste, dass es über den Rio Radman, der an diesem Punkt den Grenzverlauf bildet, gar keine Brücke gab. Um also die Grenze passieren zu können, musste ich die Schuhe ausziehen und durch den Fluss waten! Warum es also an diesem Punkt einen Grenzübergang gibt, aber keine Brücke, das ist tiefere südamerikanische Logik, die ich mir auch jetzt noch nicht ganz habe aneignen könnnen. Das Ganze war dann auch ein etwas seltsamer Abschied von einem Land, dessen Landschaft und Menschen mir in den Wochen zuvor ganz gut gelegen hatten.