Zu Fuß durch Patagonien

Kapitel 1
Am Archipelago

Meiner Ankunft in der für patagonische Verhältnisse doch recht grossen Stadt Punta Arenas hatte ich mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Schliesslich war ich wochenlang durch fast menschenleere Natur marschiert, und ich erwartete eine Menge Dreck und Chaos und Hektik bei meiner Ankunft auf dem Festland. So war es dann eigentlich auch, doch da ich damit gerechnet hatte, war es zu ertragen. Ich mietete mich mehrere Tage in einer recht günstigen Pension ein, um ein wenig Arbeit für die Webseite in Deutschland nachzuholen. Doch leider erfuhr ich, dass ich den Job los war – zu lange hatte ich mich nicht gemeldet, nicht melden können. Der Weitermarsch nach Norden war dann auch eher ernüchternd: stundenlang passierte ich Industrieanlagen und kleine Siedlungen, neben mir auf der Ruta 9 fuhren den ganzen Tag Lastwagen. Patagonien schien geizig mit seinen Reizen umzugehen. Am zweiten Tag begegnete ich dem ersten deutschen Radfahrer. Falko war unterwegs nach Lima in Peru, mit einem sechs Jahre alten Fahrrad, das wohl seine besten Tage bereits hinter sich hatte. Wir unterhielten uns abends am Lagerfeuer über unsere Reisepläne. Falko sprach dauernd von den Hochanden. Dass er noch ein paar tausend Kilometer windgepeitschtes Flachland zu bewältigen hatte, schien er nicht ganz zu realisieren. Meine Vorräte wollte ich in Villa Tehuelches, einem kleinen Pueblo zwischen Punta Arenas und Puerto Natales, ergänzen. Zu kaufen gab es in dem zweihundert-Seelen Ort dann zwar fast nichts, dafür eine winzig kleine Bibliothek mit gratis Internetzugang – und zwar über Satellit. Ich beschloss, ein paar Tage dort zu bleiben und eine Webseite über meine Reise zu erstellen. Ich lagerte hinter der Media Luna, dem halbmondförmigen kleinen Holzstadion, in dem jedes Jahr das Festival de la Esquilla abgehalten wird, und zu dem ich Wochen darauf mit einem recht seltsamen Fahrrad zurückkommen sollte – doch davon später mehr. Nach fünf Tagen war die Seite so weit fertig, dass ich sie erstmals ins Internet stellen konnte. Es war Weihnachten, und der ganze Ort schwitzte in der drückenden Hitze der sommerlichen Pampa. Und…
Der schwere Rucksack, bepackt mit Lebensmitteln für zwei Wochen, hing schwer auf Hüfte und Schultern, als ich die trockene und staubige Welt der Pampa langsam hinter mir liess und die Berge des Archipels im Küstendunst vor mir aufragen sah. Ich war immer wieder erstaunt über den raschen Wechsel von Klima und Vegetation; keine hundert Kilometer lagen zwischen den wüstenartigen Weiten im Osten und dem wuchernden und regenreichen Wald der Küste. Neujahr verbrachte im am Rio Perro, doch ich fing nur massenweise kleine Babyforellen, die niemanden satt gemacht hätten – nichtmal im Dutzend. Auf der nahen Estancia Skyring hatte ich mir Fleisch besorgt und hierbei erfahren, dass die letzte reinblütige Yaghan bis zu ihrem Tod vor wenigen Jahren in der Gegend gelebt hatte. Doch wo genau? Ich erfuhr es nicht. Ich hatte allerdings bereits in Deutschland von dieser Dame gehört, hatte jedoch die ganzen Pueblos durcheinandergebracht und geglaubt, sie sei vom Stamme der Selk’nam gewesen. Das Archipel hier am Seno Skyring war auch eher die Heimstätte der Alacalufe gewesen, eines weiteren Stammes von Ureinwohnern, die quasi in Kanus gelebt und sich vor allem von dem ernährt hatten, was das Meer so hergab. Man hatte mir auch von den Menschen berichtet, die hier an der Küste lebten – die meisten davon Puesteros, also Arbeiter einer Estancia, die in einiger Entfernung zum Gehöft in kleinen Holzhütten lebten. Ich wurde auch vor einer Person gewarnt, die weiter im Osten an der Bucht nördlich des Cerro Diadema leben sollte – eine Persona mala, also eine „schlechte Person“, die stehle und die ich meiden solle. Ein alter Weg führte entlang der Küste, in deren Buchten sich zahlreiche Lachszuchstationen angesiedelt hatten. Etwas abeits des Weges erblickte ich eine weiss gestrichene Hütte, eine kleines Holzboot lag davor am Strand, ein Hund hatte mich offenbar gewittert und bellte drauflos. Ich hatte alles, was ich für die nächste Zeit benötigte, dabei und ging deshalb weiter. Doch ein Gedanke liess mich umdrehen: ich wollte den Fischer fragen, wie ich hier in…
Ich folgte dem Weg weiter, der den Südzipfel der Cordillera Pinto umrundete, überquerte die Landbrücke, die die Halbinsel des Cerro Diadema mit dem Festland verbindet, und erreichte die Bucht, an deren Ufern jene Persona mala leben sollte, sechs Tage nach meinem Aufbruch in Villa Tehuelches. Ein grosser Fluss entsprang weiter im Norden in der Turbiaebene und mündete schliesslich in die Bucht, und an jener Stelle lagerte ich und legte einen Tag Pause ein. Auf gut Glück warf ich den Blinker aus und fing tatsächlich mehrere Fische einer Art, die ich nicht kannte. Es waren Roballos, eigentlich Meerestiere, die sich ein paar Meter in das Wasser des Flusses vorgewagt hatten. Sie hatten nicht den feinen Geschmack einer Forelle oder eines Lachses, doch als Zugabe zu meinen Nudeln waren sie mir jederzeit willkommen. Die Durchquerung jenes Flusses gestaltete sich schwieriger als erwartet; das Wasser war über einen Meter tief, und nur eine Sandbank, der Mündung des Flusses etwas vorgelagert, bot mir die Möglichkeit, mit trockenen Sachen das andere Ufer zu erreichen. Dadurch musste ich erst einige Meter in die Bucht hinauswaten, um dann in einem Bogen an den Strand gegenüber zurückzukehren. Wäre in diesem Moment jemand dazugekommen, so hätte er einen Gringo in Unterhosen und mit Rucksack gesehen, der in die Bucht hinauswatet – sicher ein bizarrer Anblick. Ich wollte hoch auf den Berg am anderen Ende der Bucht, um ein wenig die Gegend überblicken zu können. Doch die Flussbetten in der Bergflanke waren so steil eingeschnitten, dass ich die fast senkrechte Wand hinaufmusste – zum Glück gab es Vegetation, an der ich mich hinaufziehen konnte, doch das Gehölz war oft morsch und der Boden weich und moosartig. So benötigte ich Stunden, bis ich endlich in die Nähe des Gipfels kam und mein Zelt unsinnigerweise auf einer zwar topfebenen, aber völlig dem Wind ausgesetzten Stelle aufbaute – der Aussicht wegen. Wie um mich dafür zu bestrafen, ereignete sich folgendes: als ich gerade meine Jacke auszog und mich bückte, um etwas aus dem…
Nun ging es darum, einen Weg an den Seno Obstruccion im Norden zu finden. Die Küste beim Paso del Indio, einer schmalen Landbrücke, war dicht bewaldet und hätte mich wahrscheinlich mehrere Tage gekostet; die Ebene auf der anderen Seite des Berges war flach und schien nur aus Turbia zu bestehen. Nun denn, warum sich nicht einmal einen richtigen Sumpfmarsch geben. Denn Flüsse kamen aus den Bergen ringsum und sorgten dafür, dass das ganze Gebiet ständig unter Wasser stand. Regen und Sonne wechselten sich im Halbstundentakt ab, so dass ich dauernd damit beschäftigt war, meine Regensachen an- und auszuziehen. Kleine Fliegen fielen über mich her, wenn ich mich zu einer Pause niederliess. Nach acht Stunden war ich endlich an der Küste angelangt und hatte wieder trockenen Boden unter den Füssen, und am Rio Blanco traf ich auf die ersten Menschen nach sieben Tagen. Alle schienen hier miteinander verwandt zu sein: die Alte rannte davon, als sie mich mit meinem Rucksack ankommen sah, und ihr erwachsener Sohn kam mich an meinem Lagerplatz besuchen, um sich über das Woher und Wohin meiner Reise zu erkundigen. Ich zeltete unweit einer kleinen Estancia, und Francisco der Estanciero erzählte mir die Geschichte eines Deutschen, der im Jahre 1929 mit Packpferden und Arbeitern und allem möglichen Gerät hier an der Küste vorbeigekommen war, die schmale Landbrücke der Halbinsel Nuñoz Gomero überquert und versucht hatte, am Fusse des Vulkanes Mte. Burney eine Estancia aufzuziehen. Natürlich hatte das Ganze nicht funktioniert, und die Halbinsel war heute wieder völlig menschenleer. Nur ein alter Friedhof irgendwo an der Küste zeugte noch von den Anstrengungen vergangener Tage. Es waren nun noch rund zwei Tage Fussmarsch nach Puerto Natales, der Kleinstadt am Golfo Almirante Montt und Ausgangspunkt für die Touristenlawine, die jedes Jahr zur Hochsaison in Richtung des Parque Nacional Torres del Paine rollt. Um die Sache etwas abzukürzen, entschloss ich mich zu einem Tagundnachtmarsch; so konnte ich die siebzig Kilometer in einem Stück abreissen. Auf der Estancia La Junta wurde ich zum…
Nun war ich also in der Touristenhochburg Puerto Natales angelangt, wo sich die Menschen ihre langgehegten Träume in Erfüllung gehen lassen; und offenbar träumen alle dasselbe: den Torres del Paine Nationalpark besuchen! Ich hatte das Wandern hingegen erstmal ein wenig satt und suchte nach Abwechslung. Auf meinen bisherigen Touren hatte ich eine Schwäche für sinnlose oder zumindest ungeeignete Fortbewegungsmittel entwickelt, und so wollte es der Zufall, dass ein Viejo wenige Meter neben meiner Herberge ein Fahrrad zu verkaufen hatte. Ein Mountainbike oder dergleichen wäre kaum besonders interessant gewesen, doch dieses Fahrrad hatte Charakter. Die Vorderradbremse machte zwar einen etwas abenteuerlichen Eindruck, doch bis nach Villa Tehuelches war die Gegend ja eher flach. Meine Idee war es nämlich, dorthin zurückfahren, um das Festival de la Esquilla mitzuerleben. Nachdem ich den Preis des Fahrrades von zehn auf achttausend Pesos heruntergehandelt hatte, machte ich mich auf, um zunächst noch einen kurzen Abstecher ins Nachbarland Argentinien zu machen, dessen lockere Lebensart ich in den vergangenen Wochen etwas vermisst hatte. Überall wo ich hinkam hatte mein Fahrrad alle Sympathien auf seiner Seite, und so halfen mir die Grenzer, einen Lastwagen zu finden, der mich über die Schotterpiste an die Ruta 40 brachte. Doch die Ruta 40 war ebenfalls nicht mehr als eine holprige Staubpiste – nicht gut für mein Fahrrad. Per Anhalter kam ich dennoch bis 28 de Noviembre, einem kleinen Ort in den Bergen unweit des Wintersportortes Rio Turbio. Auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz traf ich Juan Carlos, den Präsidenten des hiesigen Hippotherapie-Vereines, der es mir erlaubte, auf seiner Chacra zu zelten. Abends erzählte er mir von der Arbeit, die wohl vor allem darauf basiert, dass das Reiten sehr gesund und förderlich ist für die Motorik von körperlich sowie geistig Behinderten. Für seine erst kürzlich ins Leben gerufene Organisation benötigte er eine Webseite, doch den Preis dafür konnte er nicht bezahlen. So machte ich ihm einen Vorschlag: wenn er mir die Grundzüge des Reitens beibrächte, würde ich ihm die Webseite bauen. Wir…