Vor dem Hauptgebäude der Estancia türmten sich die Wollballen, doch von den Bewohnern war weit und breit nichts zu sehen. Ich vermutete, dass sie auf einer benachbarten Estancia mit anpackten – zur Zeit der Esquila wurde jede Hand gebraucht. Wie sonst sollte man zehntausend Schafe scheren?
Wie ich nun nach Westen weitermarschierte, schien sich die Kordillere vor mir höher und höher aufzutürmen. Wie die Herrscher standen die schneebedeckten Berge über den braunen Hügeln des Vorgebirges. Aber es waren keine Herrscher, sondern nur Vorposten. Der eigentliche König der Gegend war das Eisfeld dahinter, dreihundert Kilometer in seiner Ausdehnung und im Westen an die Fjorde des chilenischen Archipels grenzend.
Das breite Tal, durch das ich marschierte, schien von einem urzeitlichen Gletscher geformt worden zu sein, so wie die ganze Gegend. Und noch etwas anderes fiel mir auf: die Gipfel der Berge vor mir waren allesamt mit schneebedeckt und schienen unüberwindlich für einen einzelnen Fussgänger. Doch genau an dem Punkt, auf den ich jetzt zumarschierte, waren die Berge auf einer Breite von vielleicht fünf bis zehn Kilometern etwas weniger hoch, meist reichten sie sogar nichtmal bis zur Schneegrenze hinauf. Ich konnte den Cerro Sombrero ausmachen und rechts davon einen tiefer gelegenen Durchgang, eine Art Pass. Das nährte meine Hoffnungen, meinen Weg auch morgen noch wie geplant fortsetzen zu können. Denn mittlerweile war ich nahe an die Grenze des Nationalparks herangekommen. Nach den wie tot daliegenden Hügeln hinter mir war es gut, wieder etwas Wald und Wasser zu sehen; der Rio Guanano floss breit und türkisblau durch das Tal. Bei der vermeintlichen Hütte des Parkwächters baute ich mein Zelt auf und wartete, denn auch hier war niemand zu sehen. Nach einiger Zeit kam ein Fahrzeug die Strasse hinaufgefahren, und am Steuer sass Mariano, von dem ich schon von Peter wusste. Sein Posten war allerdings noch ein Stückchen weiter Flussaufwärts, und so packte ich alles auf die Ladefläche seines Wagens, wärend Mariano die Hunde des Gauchos versorgte, der in der Hütte lebte und arbeitete. Alle waren in diesen Tagen in El Calafate, wo eine grosse Fiesta abgezogen wurde zum Jubiläum des sechzigsten Geburtstags der Stadt.
Auch Mariano war dort gewesen und musste sich jetzt erstmal vom Feiern erholen. Als ich ihm in seiner kleinen Hütte auf der Satellitenkarte an der Wand meine geplante Route schilderte, erfuhr ich von ihm, dass es tatsächlich einen Weg gab: durch ein Tal und um den Cerro Sombrero herum, dann am Lago Tannhäuser vorbei und am Ufer des Rio Perro ins Tal, wo die Estancia Christina lag – ein Marsch von ein oder zwei Tagen. Ich ballte die Faust – so hatte sich der Umweg durch die Berge, den ich wegen dem Naturreservat am Lago Argentino hatte machen müssen, also doch gelohnt! Doch eine Sache blieb ja noch, und ich erzählte Mariano von meiner fehlenden Genehmigung für den Nationalpark Los Glaciares. „Kein Problem“, sagte er, „ich spreche morgen über Funk mit der Zentrale in El Calafate, dort registrieren sie deine Daten, und mehr braucht es nicht.“ Ich war zufrieden – alles hatte sich eingerenkt.